Der schwedische Choreograf orientiert sich in seiner Interpretation der Geschichte von erotischer Leidenschaft, atavistischem Freiheitsdrang und tödlicher Eifersucht weitaus enger an der 1847 erschienenen literarischen Originalvorlage Prosper Mérimées, als es die weltberühmte Oper von Georges Bizet tut. Die der ursprünglichen Novelle immanente Grausamkeit rückt Johan Inger in das Zentrum seiner Choreografie und kreiert eine düstere, psychologisierende Atmosphäre, ohne dabei auf die ekstatisch temperamentvollen Momente von Bizets Musik zu verzichten. Zusätzlich zu den bekannten Opernmotiven ergänzen Themen von Rodion K. Schtschedrin sowie eine eigens in Auftrag gegebene Komposition des Spaniers Marc Álvarez die Vertonung.
Schon früh inspirierte der kraftvoll rhythmische Esprit sowohl der literarischen wie musikalischen Vorlage bedeutsame Choreografen dazu, die Erzählung in reine Bewegung umzusetzen. Nachdem bereits Marius Petipa dreißig Jahre nach Erscheinen der Novelle das Ballett »Carmen et son toréro« in Madrid herausbrachte, deuteten Künstler wie Roland Petit, John Cranko, Antonio Gades, Mats Ek und Carlos Acosta »Carmen« immer wieder aufs Neue.
Der Blick Ingers konzentriert sich wie Mérimées Novelle auf den emotionalen Kampf des Protagonisten Don José. Allerdings modernisiert Inger das Drama und verleiht ihm durch seine Transkription in den zeitgenössischen Tanz seine ganz individuelle Lesart. Die von ihm eingefügte Knabenfigur bezeugt die in Leidenschaft und Gewalt eskalierende Handlung mit eigenen Augen und schafft die Verbindung zum Rezipienten: »Diesen Charakter umgibt ein gewisses Geheimnis. Es könnte irgendein Kind oder Don José als Junge sein, es könnte ebenso die junge Michaela oder Carmen oder Don Josés ungeborenes Kind sein. Es könnten auch wir selber sein, deren ursprüngliches Gutsein durch ein grausames Erlebnis verletzt wurde, dass wie eine tiefe Trauer unser Leben und unsere Fähigkeit mit andern zu interagieren für immer negativ beeinflusst hat.« Inger stellt sich mit seiner Interpretation des Stoffes der ungeheuren Aufgabe, mit tänzerischen Mitteln eine Entwicklung beim Zuschauer zu initiieren und über den kindlichen Augenzeugen einen Reflexionsprozess in Gang zu setzen, der über die erzählerische Intention hinauszielt: »Am Ende stellt sich die Frage, ob das Kind die erlebten Muster wiederholt oder sich weiterentwickelt und verändert.«
Mit »Carmen« stellt Ballettdirektor Aaron S. Watkin mit seiner Company nach den Einaktern »Walking Mad« und »Empty House« eine dritte Arbeit des internationalen Shootingstars Johan Inger in Dresden vor. Im März folgt das Semperoper Ballett im Rahmen seiner ersten Australien- und Singapur-Tournee der Einladung des weltbekannten Adelaide Festivals of Arts, wo die Company am 8., 9. und 10. März mit »Carmen« im Adelaide Festival Theatre zu erleben sein wird.
»Carmen«, Ballett in zwei Akten von Johan Inger, interpretiert vom Semperoper Ballett mit Musik von Georges Bizet, Rodion Schtschedrin und Marc Álvarez, gespielt von der Sächsischen Staatskapelle Dresden (und vom Tonträger) unter der Musikalischen Leitung von Manuel Coves.
Choreografie Johan Inger
Musik Georges Bizet, Rodion Schtschedrin
Ergänzende Neukomposition Marc Álvarez
Kostüme David Delfín
Bühnenbild Curt Allen Wilmer
Licht Tom Visser
Einstudierung Urtzi Aranburu, Patricia Vázquez Iruretagoyena
Dramaturgie Gregor Acuña-Pohl
Musikalische Leitung Manuel Coves
Weitere Vorstellungen am 27. Januar und 10., 16., 24. Februar 2019
Werkeinführung jeweils 45 Minuten vor Vorstellungsbeginn.
Karten für die Vorstellungen sind an der Schinkelwache am Theaterplatz (T +49 (0)351 4911 705) und online erhältlich. Weitere Informationen unter semperoper.de