Valère Novarina dürfte hierzulande wenig bekannt sein. In Frankreichs Theaterszene genießt er den Ruhm eines geliebten und gehassten, immer funkelnden Solitärs.
Er wurde 1947 als Sohn eines Architekten und einer Schauspielerin bei Genf geboren und wuchs in Frankreich auf. Spielen und konstruieren, zwei Grundzüge seines Wesens. Schon als Sechsjähriger deponierte er erste wissenschaftliche Schriften unter Steinen. Er entwickelte einen unersättlichen Lesehunger und schrieb mit achtzehn eine theaterwissenschaftliche Abhandlung. Später studierte er Philosophie und Philologie an der Sorbonne in Paris, wo er heute als Schriftsteller, Regisseur und Maler lebt.
Ein Multitalent. 1972 begann seine von Anfang an umstrittene Wirkung als Autor. Die Radio-Version seines Stücks „L’Atelier volant“ wurde aus politischen Gründen verboten und erst ein Jahr später gesendet. Er war immer ein Protestierender, Unangepasster, der auf seine eigene komplex-geistreiche Weise den Finger auf die traditionell schwelenden Wunden der Gesellschaft legte. 1973 las er öffentlich sein zweites Stück „Le Babil des Classes“, das fast fünf Stunden dauerte.
1974 wurde sein Erstling in Suesnes aufgeführt. Jahre später schloss er sich in einen Turm ein und zeichnete Figuren zu seinem Stück „Le Drame de la vie“. Bei dessen von ihm inszenierter Uraufführung 1986 beim Festival von Avignon kam es zu Turbulenzen. Trotzdem öffnete sich langsam der Weg für seine öffentliche Wirkung. Bis 1995 wurden 5 weitere Stücke uraufgeführt, die er immer selbst inszenierte. Unterdessen engagierte sich die Regisseurin Claude Buchvald für den extrem eigenwilligen Autor, 1998 schrieb er für sie und ihre Truppe „L’Opérette imaginaire", eine Aufführung, die Kultstatus erreichte und drei Jahre lang durch ganz Frankreich zog.
2002 wurde seine siebte Inszenierung eines eigenen Stückes „L’origine rouge“ in Paris und in Avignon ohne Skandal präsentiert. Und in diesem Jahr 2006, mit fast sechzig Jahren, erhält er die besonderen Weihen für einen Autor in Frankreich, indem sein Stück „L’espace furieux“ an der Comédie Francaise in Paris den Spielplan bereichern wird.
Ich habe zu Beginn dieser Rezension so ausführlich über den Autor berichtet, weil seine Person zum Verständnis seines Stückes besonders wichtig ist. Er ist zweifellos ein Kind der Achtundsechziger, von tiefem Misstrauen zu den bürgerlichen Ritualen der Gesellschaft beseelt, gleichzeitig mit einem brillanten Talent zur hochartifiziellen Form begabt, mit der er seine Aussagen zugleich begründet und verfremdet. Diese Richtung haben auch andere Autoren seiner Generation verfolgt, aber kaum einer hat sie mit dieser Konsequenz bis heute beibehalten. Sein „Brief an die Schauspieler“, in einer komplizierten Sprache randvoll mit unzähligen fantasievollen Anspielungen an historische und gegenwärtige Phänomene geschrieben, ist Ausdruck seines Überdrusses an allem, was einen „normalen“ Theaterabend mit den üblichen Spielweisen der Schauspieler ausmacht und schon millionenmal gezeigt wurde. Ausdruck seiner Sehnsucht nach etwas Neuem, Ehrlichem, Authentischem, nach ungeschönter Substanz, nach Veränderbarkeit der Formen.„Friss, schlürf, kau, lung dich auf….“ fordert Novarina von den Schauspielern. Sie machen sich diese Forderung mit Lust und Hingabe zu eigen. Es gibt keine Rollen mehr, keine Verabredungen zu einer wie immer gearteten Handlung. Auf sechs Figuren verteilt breitet sich eine fast symphonische Manifestation aus Stimmen, Bewegungen, Spielformen aus. Wer immer Lust hat, Sehgewohnheiten abzulegen und sich auf ein szenisches Neuland menschlicher Ausdrucksformen einzulassen, wird diesen Abend rückhaltlos genießen.
Die Inszenierung dieser „Überforderung“, als die Novarina sein Stück bezeichnet, von Philip Tiedemann ist vom Anfang bis zum Ende wunderbar. Streng durchkomponiert, trotzdem leicht, verspielt und nie langweilig. Die sechs agierenden Personen Steffi Krautz, Silja von Kriegstein, Farida Shehada, Michael Fuchs, Marco Matthes und Thomas Wittmann haben mit ihrer präzisen Hingabe an die eigenwillige Form allerhöchstes Lob verdient.
Sie agieren in hautengen Anzügen in weiß und königsblau vor, hinter und auf einer gleichfarbigen Sprossenwand (Bühne und Kostüme Franz Lehr), ihre körperliche und sprachliche Gelenkigkeit ist atemberaubend.
Ein Abend der besonderen, für mich absolut beglückenden Art.
Premiere 4. März 2006 im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses.