Die Regierung des Präsidenten Ronald Reagan war nicht nur ratlos, sondern ignorant gegenüber der Epidemie.
In Tony Kushners Theaterstück „Engel in Amerika“ lässt sich der korrupte Rechtsanwalt Roy M. Cohn,
einer der wesentlichen Machtmakler der Republikaner, von seinem Hausarzt Leberkrebs diagnostizieren, weil Aids eine Sache für Leute sei, „die keinen Einfluss haben“. Ein schwules Paar trennt sich, weil der Gesunde die Nähe des Erkrankten nicht erträgt, und eine Mormonenehe zerbricht, weil der Mann vor seiner Frau seine wahren Neigungen, Männer zu lieben, nicht länger verbergen kann.
Amerika ist ein hilfloses Land voll Schmerz, Verletzungen und Halluzinationen. Man wartet auf die Rückkehr des Messias, aber vermutlich nähert sich die Welt ihrem Ende, „die Vögel erblinden, die
Eisberge schmelzen“. Der Staat ist abgewirtschaftet und die Natur ist ruiniert. Steht eine Zeitenwende
bevor?
„Engel in Amerika“ wurde 1993 uraufgeführt. Kushner erhielt für sein Drama eine Vielzahl von
Auszeichnungen (darunter einen Pulitzerpreis). Auch oder gerade, weil Kushner nicht ein didaktisches
selbstmitleidiges Agitations-Melodram kreiert hat, sondern ein Verwirrspiel aus Dokudrama, Lehrstück
und neuem bürgerlichen Trauerspiel zu einem bitteren Gesellschaftspanorama.
„Engel in Amerika“ war für eine ganze Generation polarisierend wie inspirierend gleichermaßen: Schwule outeten sich, Aidskranke schöpften Mut. Kushners Drama wurde Schulstoff und erlebte in den
letzten zwanzig Jahren immer wieder besondere Aufmerksamkeit: So 2003 durch die legendäre TVMiniserie von Oscar-Preisträger Mike Nichols für den Pay-TV-Sender HBO mit den Hollywoodstars Al
Pacino und Meryl Streep und zuletzt in Ivo van Hoves Inszenierung mit der Toneelgroep Amsterdam, die seit 2013 selbst am Off-Broadway zum Gastspiel-Renner wurde.
Das eigentlich siebenstündige Werk, es besteht aus zwei Teilen, sieht vor, dass jeder Schauspieler
mehrere Figuren verkörpert. Daraus ergibt sich die Forderung, auf der Bühne sehr unterschiedliche
Darstellungsweisen zu entwickeln.
„In seiner Erzähl-Struktur war das Stück seiner Zeit voraus, die Szenenführung ist über weite Strecken
filmisch, verschachtelt, es gibt Parallel-Szenen, das Verschwimmen von Realitäten mit Halluzinationen
und Visionen, Verschränkung verschiedener Zeitebenen und räumlicher Ordnungen. Hier fordert der Text einen geradezu heraus, bei einer heutigen Umsetzung diese Strukturen weiter zu treiben, die Erzählweise noch komplexer aufzuladen und so eine fruchtbare (Über)forderung auszulösen zwischen einer spannenden und suggestiven Handlung einerseits und einer Erzählweise, die die Komplexität des
Themenkosmos formal spiegelt,“ schreibt Regisseur Bastian Kraft in einem Brief an die Dramaturgie des Thalia Theaters und weiter: „Das zentrale Thema in ‚Engel in Amerika‘ ist die Zeitenwende. Die Frage: In welchem Zeitalter leben wir? Was ist sein Paradigma? Woran glauben wir, nachdem es keine
verbindende Religion mehr gibt, keinen sinnstiftenden Überbau (eben keine Engel in Amerika), und die
grenzenlose Freiheit der Individuen und Märkte uns haltlos zurücklässt? Diese Fragen formuliert Kushner vor dem Hintergrund der Aids-Krise im Reagan-Amerika der 80er-Jahre mit großer Schärfe."
Regie Bastian Kraft
Bühne & Video Peter Baur
Kostüme Anna van Leen
Musik Björn Deigner
Dramaturgie Matthias Günther
Ensemble Alicia Aumüller, Kristof van Boven, Sandra Flubacher, Julian Greis, Ernest Allan Hausmann,
Matthias Leja, Marie Löcker, Oliver Mallisson
Weitere Vorstellungen am 24. Oktober um 19.30 Uhr sowie am 29. Oktober um 20 Uhr
Karten 040. 32 81 44 44 / www.thalia-theater.de