Der Titel des Stückes "A Kiss to the world" lässt einen musikaffinen Menschen automatisch an die Vertonung von Schillers Ode "An die Freude" in Beethovens 9. Sinfonie denken. Diese kommt aber in dem Tanzstück gar nicht vor. Ausgangspunkt für Dumais ist vielmehr Aleksandra Vrebalovs Musik "A kiss to the whole world", die sich ebenfalls von Schillers Ode inspirieren ließ. Auch die Oskulation beschäftigt Dumais, die sie als eine Art Beugung zueinander, auch im Akt des Küssens, sieht.
Die Tänzer und Tänzerinnen treten im ersten Teil in einem grauen Betonbau, in grauen Anzügen, getragen als eine Art Schutzpanzer auf, entindivualisiert und doch vereinzelt. Erst allmählich wird man gewahr, dass es ein rotes Innenfutter in den Jacketts gibt. Eine Einführung in die Phänomenologie des Kusses wird vorgetragen. Der Kuss wird zur Grimasse, eine Geste ohne jegliche Wärme, distanzhaltend. Die Bewegungen sind eher geometrisch, kantig. Nach und nach wird Kleidung abgeworfen, ein Akt der Befreiung. Im zweiten Teil kehrt Farbe ein: bunte Herbstblätter schweben von Ästen auf die Bühne, rote Kleider werden getragen, in der Farbe des Herzens, der Liebe. Die Tänzer und Tänzerinnen verbinden sich mehr miteinander, kommen sich trotz ihrer Verletzlichkeit näher.
Dumais geht es in ihrem Stück nicht um den Liebeskuss, der zwischen zwei Individuen erfolgt, sondern um Zwischenmenschlichkeit, die Verbindung mit der Natur, der Welt, dem sich zugehörig und verantwortlich fühlen. Und damit kommen wir wieder zu Schillers Ode und dem Zitat: "Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!" Es ist ein humanistisches Anliegen, in einer Zeit der zunehmenden Kriegsgeschehens in der Welt, ein Appell an den Dialog, die Kommunikation, an Zuwendung, Nähe und Empathie, ein sich mit der Welt Verbinden. Ein Trost in unruhigen Zeiten bietet der Kunstgenuss. Zumindest Dominique Dumais gelingt in ihrem Stück ein harmonisches Zusammenwirken von Tanz, Musik, Kostüm, Bühne und Licht, für das sie und ihr Team frenetischen Beifall erntete.
Musikalische Leitung: Katharina Müllner
Choreographie: Dominique Dumais
Musik: Aleksandra Vrebalov, Georg Friedrich Händel, Wolfgang Amadeus Mozart, Zbigniew Preisner
Bühne / Kostüme: Tatyana van Walsum
Licht: Bonnie Beecher
Sounddesigner: Davidson Jaconello
Dramaturgie: Julia Schinke
Sopran: Bogdana Bevziuk
Klavier: Alina Bercu
Düsseldorfer Symphoniker
TänzerInnen
Paula Alves, Marta Andreitsiv, Joaquin Angelucci, Doris Becker, Daniele Bonelli, Jack Bruce, Wun Sze Chan, Orazio Di Bella, Sara Giovanelli, Futaba Ishizaki, Lotte James, Evan L'Hirondelle, Samuel López Legaspi, Pedro Maricato, Miquel Martínez Pedro, Clara Nougué-Cazenave, Emilia Peredo Aguirre, Ako Sago, Kauan Soares, Edvin Somai, Vinícius Vieira, Elisabeth Vincenti, Long Zou
Musik
Aleksandra Vrebalov:
Starry night
Danube Etude
Ur Song
Dozivenja Andela (Angelic Incantations)
This Kiss to the Whole World
Wolfgang Amadeus Mozart
Symphonie Nr. 25 in g-Moll KV 183, 1. Satz Allegro con brio
Joseph Haydn
Klavierkonzert D-Dur Hob. XVIII:11/ 2. Satz Un poco adagio
Zbigniew Preisner
Valley of Shadows: Wake Up
Patrick Watson
Lost with you
Je te laisserai des Mots
Ludwig van Beethoven
Klavierkonzert Nr. 5 in Es-Dur op. 73, 2. Satz Adagio un poco mosso
Georg Friedrich Händel
Suite Nr. 4 HWV 437 in d-Moll, 3. Sarabande