Dies verlangte heldenhafte Eigenschaften: Mut, Opferbereitschaft, Leidensfähigkeit, Stärke, Ausdauer, Intelligenz. Dass die Sowjetunion als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges geradezu Übermenschliches geleistet hatte bei der Niederschlagung des Faschismus, war jenes Narrativ, das lange die Siegesgewissheit gegenüber dem Kapitalismus heraufbeschwören konnte. Bis in den 1980er-Jahren mit Perestroika und Glasnost dieses Weltbild ins Wanken geriet.
Denn als Ende der 80er-Jahre der Eiserne Vorhang fiel, waren es vor allem zwei Faktoren, die dafür sorgten, dass das Volk die Errungenschaften des Sozialismus bereitwillig hergab: die Aufdeckungen des stalinistischen Terrorregimes und die marode Wirtschaft, die nicht in der Lage war, Sehnsüchte nach westlichen Konsumgütern mit eigenen Erzeugnissen zu befriedigen. Eine ganze Welt ging im Tausch gegen „Wurst und Jeans“ verloren: Vorbei die Zeiten, in denen man sich nächtelang am Küchentisch die Köpfe heiß redete und eine bessere Welt beschwor. Auf einmal waren Träume weniger wichtig als real erfüllte Bedürfnisse und Ideen, Bücher, Theaterstücke, Lieder weniger wertvoll als eine größere Wohnung oder ein Auto.
Erinnerungen wie diese erstehen in den Gesprächen, die Swetlana Alexijewitsch mit ehemaligen Sowjet-Bürger*innen geführt hat. Das postsowjetische Lebensgefühl speist sich für viele aus der bitteren Erkenntnis, dass sie eine große Verheißung, die Utopie einer anderen Gesellschaftsordnung, auf dem Altar des Kapitalismus geopfert haben und dass den meisten das Verlorene inzwischen mehr wert scheint als das Gewonnene. Und wie von selbst erklärt sich auch die aktuelle russische Politik, die eine große Demütigung durch Wiedererlangung imperialer Größe zu kompensieren versucht. Die Autorin gibt in ihrem einzigartigen Dokumentarstil ganz normalen Sowjet-Bürger*innen eine Stimme und lässt diese 100 Jahre nach der Oktoberrevolution erzählen, warum die Revolution gelang – und warum sie nach 70 Jahren scheiterte.
Zur Autorin
Swetlana Alexijewitsch
Swetlana Alexijewitsch, geboren 1948 in einem Dorf in Weißrussland, arbeitete ursprünglich als Journalistin und entwickelte aus Gesprächen mit Landsleuten einen ganz eigenen, dokumentarischen Schreibstil. Mit ihrem ersten Buch, „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, eroberte sie sich als junge Autorin 1985 einen Platz als Verfasserin dokumentarischer Prosa. Diesen besonderen Stil, bei dem sie aus Gesprächen Epen voller Wahrhaftigkeit, Poesie und erschütternder, existenzieller Wucht destilliert, verfeinerte sie im Laufe der Jahre immer weiter. Nach dem Erscheinen von „Secondhand- Zeit“ erhielt sie 2015 den Nobelpreis für Literatur, was als richtiges und wichtiges politisches Zeichen gewertet wurde.
Zur Regisseurin
Alia Luque
Geboren 1978 in Barcelona. Alia Luque studierte Arabistik, Deutsche Literatur und Sozial- und Kulturanthropologie in Spanien und Holland. Bereits während des Studiums arbeitete sie als Regie- und Bühnenbildassistentin. 2004 hospitierte sie am Bayerischen Staatsschauspiel und begann am Metropol Theater München zu arbeiten, zunächst als Assistentin des Intendanten, dann als Kostümbildnerin und Choreographin. Von 2009 bis 2011 war Alia Luque als Regieassistentin am Thalia Theater engagiert. Dort entstanden erste eigene Regiearbeiten. Seit 2011 ist sie freischaffende Regisseurin und arbeitete unter anderem am Thalia Theater Hamburg, Staatstheater Mainz, Schauspiel Stuttgart und am Maxim Gorki Theater in Berlin. Ihre Uraufführungsinszenierung „La Chemise Lacoste“ von Anne Lepper am Düsseldorfer Schauspielhaus wurde 2015 zum Festival „Radikal Jung“ nach München eingeladen. Im April 2016 inszenierte Alia Luque die Uraufführung von „die hockenden“ von Miroslava Svolikova (Gewinnerstück des Retzhofer Dramapreises 2015) am Burgtheater.
Regie Alia Luque
Bühne und Kostüme
Video Christoph Rufer
Richard Haufe-Ahmels
Dramaturgie Elisabeth Geyer
Mit Fredrik Jan Hofmann, Mathias Lodd, Sarah Sophia Meyer, Tamara Semzov
weitere Vorstellungen am 9. und 29. Dezember, jeweils 20.00 Uhr, sowie ab Jänner
Tickets
T 0316 8000, F 0316 8008-1565, E tickets@ticketzentrum.at
I www.schauspielhaus-graz.com