Dieses manchmal schwierige Anderssein erfährt hier eine spannungsvolle tänzerische Umsetzung. "Ich heiße Christopher John Francis Boone. Ich kenne alle Länder der Welt und ihre Hauptstädte und sämtliche Primzahlen bis 7507", meint er. "Primzahlen sind wie das Leben. Sie sind sehr logisch, aber man käme niemals auf die Regeln, selbst wenn man die ganze Zeit über nichts anderes nachdenken würde." Deshalb hat der 15-jährige Christopher auch ein Gespür für Krimis und ist ein erklärter Fan von Sherlock Holmes. Er muss nämlich den Mord an dem Nachbarshund Wellington lösen. Dabei gibt es dann ein weiteres Geheimnis: Seine Mutter ist gar nicht tot, sondern hat ihren Mann verlassen. Angeblich erlitt sie mit 38 Jahren einen Herzanfall - doch das glaubt er nicht.
Die dramaturgisch-choreographische Struktur lässt den Tänzerinnen und Tänzern viel Freiraum. Die Choreographin Katja Erdmann-Rajski spricht aus dem Off immer wieder Romanpassagen ein. Diese geben dem tänzerischen Geschehen neue Impulse. Versteckte Emotionen werden von den fulminanten Solistinnen und Solisten Lilly Bendl, Guillermo de la Chica, Kristina Olearnikova und Marek Ranic und der furiosen Tanzgruppe körperlich-tänzerisch geschickt und facettenreich umgesetzt. Romanmotive verbinden sich hier auch mit der Musik von Benjamin Brittens "Variations on a theme of Frank Bridge" (mit dem English Chamber Orchestra unter der Leitung des Komponisten) sowie Ausschnitten aus Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 2 in d-Moll BWV 1004 mit der Geigen-Solistin Janine Jansen. Die Einflüsse der Musik von Gustav Mahler stechen bei Britten tänzerisch in vielfältiger Weise hervor.
Die zehn Variationen werden bewegungstechnisch geschickt abgewandelt. Ein Wiener Walzer steht neben einem Trauermarsch und einem Perpetuum mobile. Selbst die Fugen-Ansätze bleiben spürbar. Und zu Bachs grandioser Violin-Partita wird bei dieser subtilen Performance intensiv meditiert. Die Musik hebt dabei das Andere im Eigenen auf. In den Soli verarbeiten die Tänzer ihre eigenen bedrückenden oder befreienden Erfahrungen. Der Tanz wird so zum Mysterienspiel, das immer wieder unter die Haut geht. Bei Bach spiegelt sich der letzte Satz als Tanz aus Spanien in geheimnisvoller Weise in den Bewegungen der Tänzer. Und eine einzelne Solistin meditiert. Eine wilde Gigue führt dabei zur monumentalen Chaconne. Intensive rhythmische Impulse ergeben sich hier im melodischen Singen der Violine, im Doppelgriff- und Bariolagespiel sowie in den Akkordbrechungen. Man denkt unweigerlich an die Primzahlen aus dem Roman. Das individuelle Leben wird zu einer geradezu mathematischen Erfahrung.
Schließlich löst Christopher das Rätsel, wer den Hund Wellington umgebracht hat. Es war der Vater. Nichtsdestotrotz fügt sich auch die Ratte Toby in das Geschehen ein und macht schließlich einem neuen Hund Platz. Obwohl es manchmal nicht einfach ist, dem roten Faden in dieser Choreographie zu folgen, gelingt es Katja Erdmann-Rajski sehr gut, aufgrund der suggestiven visuellen Eindrücke das Publikum zu fesseln.