Logo of theaterkompass.de
HomeBeiträge
DER TANZ ALS MYSTERIENSPIEL -- "Ich bin nur anders oder Primzahlen sind wie das Leben" als Tanztheater von Katja Erdmann-Rajski im Treffpunkt Rotebühlplatz/STUTTGARTDER TANZ ALS MYSTERIENSPIEL -- "Ich bin nur anders oder Primzahlen sind wie...DER TANZ ALS...

DER TANZ ALS MYSTERIENSPIEL -- "Ich bin nur anders oder Primzahlen sind wie das Leben" als Tanztheater von Katja Erdmann-Rajski im Treffpunkt Rotebühlplatz/STUTTGART

am 6. September 2024

Katja Erdmann-Rajski hat sich bei ihrem neuen Tanztheater-Projekt von Mark Haddons Roman "Supergute Tage" inspirieren lassen. Hier steht der Protagonist Christopher im Mittelpunkt des Geschehens. Er ist anders. Er mag keine gelben und braunen Sachen, färbt sein Essen und den Kopfsalat mit Lebensmittelfarbe. Witze und Unordnung mag er nicht. Dafür liebt er Primzahlen und schafft schließlich sein Mathe-Abitur mit einer glatten Eins.

 

Copyright: Grisaphy | Marco Grisafi

Dieses manchmal schwierige Anderssein erfährt hier eine spannungsvolle tänzerische Umsetzung. "Ich heiße Christopher John Francis Boone.  Ich kenne alle Länder der Welt und ihre Hauptstädte und sämtliche Primzahlen bis 7507", meint er. "Primzahlen sind wie das Leben. Sie sind sehr logisch, aber man käme niemals auf die Regeln, selbst wenn man die ganze Zeit über nichts anderes nachdenken würde." Deshalb hat der 15-jährige Christopher auch ein Gespür für Krimis und ist ein erklärter Fan von Sherlock Holmes. Er muss nämlich den Mord an dem Nachbarshund Wellington lösen. Dabei gibt es dann ein weiteres Geheimnis: Seine Mutter ist gar nicht tot, sondern hat ihren Mann verlassen. Angeblich erlitt sie mit 38 Jahren einen Herzanfall - doch das glaubt er nicht.

Die dramaturgisch-choreographische Struktur lässt den Tänzerinnen und Tänzern viel Freiraum. Die Choreographin Katja Erdmann-Rajski spricht aus dem Off immer wieder Romanpassagen ein. Diese geben dem tänzerischen Geschehen neue Impulse. Versteckte Emotionen werden von den fulminanten Solistinnen und Solisten Lilly Bendl, Guillermo de la Chica, Kristina Olearnikova und Marek Ranic und der furiosen Tanzgruppe körperlich-tänzerisch geschickt und facettenreich umgesetzt. Romanmotive verbinden sich hier auch mit der Musik von Benjamin Brittens "Variations on a theme of Frank Bridge" (mit dem English Chamber Orchestra unter der Leitung des Komponisten) sowie Ausschnitten aus Johann Sebastian  Bachs Partita Nr. 2 in d-Moll BWV 1004 mit der Geigen-Solistin Janine Jansen. Die Einflüsse der Musik von Gustav Mahler stechen bei Britten tänzerisch in vielfältiger Weise hervor.

Die zehn Variationen werden bewegungstechnisch geschickt abgewandelt. Ein Wiener Walzer steht neben einem Trauermarsch und einem Perpetuum mobile. Selbst die Fugen-Ansätze bleiben spürbar. Und zu Bachs grandioser Violin-Partita wird bei dieser subtilen Performance intensiv meditiert. Die Musik hebt dabei das Andere im Eigenen auf. In den Soli verarbeiten die Tänzer ihre eigenen bedrückenden oder befreienden Erfahrungen.  Der Tanz wird so zum Mysterienspiel, das immer wieder unter die Haut geht. Bei Bach spiegelt sich der letzte Satz als Tanz aus Spanien in geheimnisvoller Weise in den Bewegungen der Tänzer. Und eine einzelne Solistin meditiert. Eine wilde Gigue führt dabei zur monumentalen Chaconne. Intensive rhythmische Impulse ergeben sich hier im melodischen Singen der Violine, im Doppelgriff- und Bariolagespiel sowie in den Akkordbrechungen. Man denkt unweigerlich an die Primzahlen aus dem Roman. Das individuelle Leben wird zu einer geradezu mathematischen Erfahrung.

Schließlich löst Christopher das Rätsel, wer den Hund Wellington umgebracht hat. Es war der Vater. Nichtsdestotrotz fügt sich auch die Ratte Toby in das Geschehen ein und macht schließlich einem neuen Hund Platz. Obwohl es manchmal nicht einfach ist, dem roten Faden in dieser Choreographie zu folgen, gelingt es Katja Erdmann-Rajski sehr gut, aufgrund der suggestiven visuellen Eindrücke das Publikum zu fesseln.
 

 

Weitere Informationen zu diesem Beitrag

Lesezeit für diesen Artikel: 17 Minuten



Herausgeber des Beitrags:

Kritiken

GESPENSTER UND ATEMLOSE SPANNUNG -- "Falsche Schlange" von Alan Ayckbourn im Kronenzentrum/BIETIGHEIM-BISSINGEN

Eine Prodfuktion von Tournee-Theater Thespiskarren - Theater im Rathaus Essen. - In der subtilen Regie von Gerit Kling bekommt dieser Psycho-Thriller rasch scharfe Kontur. Annabel Chester kehrt nach…

Von: ALEXANDER WALTHER

AUCH DIE BILDENDE KUNST IST PRÄSENT -- Ludwigsburger Schlossfestspiele 2025

Die Festspielzeit 2025 wird am Samstag, 31. Mai 2025 mit dem Konzerthausorchester Berlin unter der Leitung von Joana Mallwitz im Forum am Schlosspark eröffnet. Neben Schuberts "Großer C-Dur-Sinfonie"…

Von: ALEXANDER WALTHER

FEINE SCHWINGUNGEN -- "Wege in die Gegenwart" - Gitarrenmusik des 20. und 21. Jahrhunderts im Kammermusiksaal der Musikhochschule STUTTGART

Gitarren-Musikstudenten der Klasse von Tillmann Reinbeck stellten sich im Kammermusiksaal der Musikhochschule vor. Der Abend begann mit "Quatre pieces breves" aus dem Jahre 1933 von Frank Martin. Das…

Von: ALEXANDER WALTHER

PEITSCHENDE RHYTHMEN -- Symphonieorchester unter Juraj Valcuha im Beethovensaal der Liederhalle STUTTGART

Ein sehr russisches Programm präsentierte das glänzend disponierte SWR Symphonieorchester unter der Leitung des slowakischen Dirigenten Juraj Valcuha diesmal in der Liederhalle. Zunächst erklang die…

Von: ALEXANDER WALTHER

VON HÄNDEL BIS MORALES -- Neue CD "Trumpet Consort" mit Matthias Höfs und Ensemble bei Berlin Classics erschienen

Der berühmte Trompeter Matthias Höfs versammelt für sein neues Album "Trumpet Consort" zwei Dutzend Trompeter und Trompeterinnen um sich - darunter auch Studierende seiner Trompetenklasse der…

Von: ALEXANDER WALTHER

Alle Kritiken anzeigen

folgen Sie uns auf

Theaterkompass

Der Theaterkompass ist eine Plattform für aktuelle Neuigkeiten aus den Schauspiel-, Opern- & Tanztheaterwelten in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Seit 2000 sorgen wir regelmäßig für News, Kritiken und theaterrelevante Beiträge.

Hintergrundbild der Seite
Top ↑