Doch so richtig will es nicht klappen mit dem Glück im trauten Heim. Hannah, der 15-Jährigen gefällt es dort nicht, sie gehört da nicht hin, fühlt sie. Und Witha, die über 80-Jährige, wird von ihren Erinnerungen heimgesucht. 1935 hatten sie und ihr Mann Wolfgang das Haus einer jüdischen Familie abgekauft und den Schwarzmanns damit die Flucht nach Amerika ermöglicht. So zumindest behauptet es die Familienlegende. Und dann steht da plötzlich eine junge Frau im Raum, die kommt, um zu stören, weil sie meint, auch ein Anrecht auf das Haus zu haben. Und als Hannah beschließt, nach Amerika zu gehen, um die Schwarzmanns zu treffen, gerät das ganze schöne Bild von der Vergangenheit der eigenen Familie ins Wanken.
Geschickt verknüpft Marius von Mayenburg fast 60 Jahre deutscher Geschichte zu einem spannenden Stück Theater, das sowohl die Zeit des Nationalsozialismus als auch die innerdeutschen Ver- und Entwicklungen nach dem Krieg und nach dem Ende der DDR beleuchtet. In 34 kurzen Szenen springt die Handlung zwischen fünf Zeitebenen hin und her. Ein Puzzle der Erinnerungen, das die Beteiligten wie die Zuschauer zusammensetzen müssen. Da sind der Einzug von Witha und Wolfgang in das Haus (1935), die verheerende Bombennacht (1945), das Kofferpacken für die hastige Republikflucht in den Westen (1953), der Besuch „im Osten“, in dem Haus, das jetzt von anderen Menschen bewohnt wird (1978) und der Versuch eines Neuanfangs (1993). Immer drehen sich Withas Gedanken um jenen Tag im Jahr 1935, an dem sie mit der Jüdin Mieze im Haus darauf wartet, dass ihre Ehemänner im Nebenzimmer den Kaufvertrag unterzeichnen.
Wie ein Netz webt Marius von Mayenburg seine Szenen, die Zeiten ineinander und verknüpft sie über Objekte, die durch die Szenen wandern, und Szenenanschlüsse, in denen Figuren über die Zeiten hinweg aufeinander zu reagieren oder zu antworten scheinen. Durch den Blick in Vergangenheit und Zukunft, in unterschiedliche Lebensalter der Figuren, wird der Zuschauer zum Zeugen, wie Verklärungen und Lügen entstehen, die in der „Gegenwart“ von 1993 zu selbstverständlichen Wahrheiten geworden sind. Geschichte wird hier erzählt und erlebt als Familiengeschichte, die sich als Konstrukt, als Erfindung erweist und Unangenehmes, Schmerzhaftes oder Traumatisches ausblendet oder verdrängt.
„Der Stein“ sei ein weiter Wurf und ein ziemlicher Brocken, schrieb „Theater heute“ in einem Interview mit dem Autor Marius von Mayenburg anlässlich der Uraufführung dieses Stückes 2008. So etwas habe seit Heiner Müller kein deutscher Autor mehr gewagt.
Regie: Esther Hattenbach
Bühne: David Hohmann
Kostüme: Alice Nierentz
Mit: Julia Apfelthaler (Hannah), Sylvia Bretschneider (Heidrun), Judith Lilly Raab (Mieze), Luise Schubert (Stefanie), Sabine Unger (Witha), Tobias D. Weber (Wolfgang)