Ein Krieg ist zu Ende. Das Lager der Besiegten ist ein Bild des Grauens. Blutgetränkte Schlachtfelder. Die Männer tot oder verschleppt. Übrig bleiben die Frauen in ihrem Schmerz, ihrer Trauer. Sie sind die Leidtragenden des Nachkriegs. Sie beweinen ihre toten Väter, Freunde, Gatten und Söhne, sie kauern in ihren zerstörten Behausungen, hoffnungslos, in ohnmächtiger Furcht vor Gegenwart und Zukunft.
Den Siegern genügt das immer noch nicht. Ihr Triumph ist nur vollkommen, wenn sie nun die besiegten Frauen auch noch vergewaltigen, demütigen, verschleppen, oder als Tribut an ihren Sieg umbringen lassen.
Geschieht dies heute oder vor über zweitausend Jahren? Es ist immer geschehen und geschieht immer wieder, solang es Menschen und ihre Kriege gibt. Und immer wieder wird es auch Schriftsteller geben, die das Furchtbare zum Thema ihrer Arbeit machen.
Die alten griechischen Dichter haben das mit besonderer Genialität getan, in Werken, deren zeitlose Gültigkeit uns heute noch tief beeindruckt. Homers 'Ilias', im dritten vorchristlichen Jahrhundert entstanden, handelt vom trojanischen Krieg und gleichzeitig vom Krieg schlechthin. Vor Homer lebten und schrieben die grossen griechischen Tragödiendichter. Aischylos, der Begründer der Tagödie als literarische Form, später Sophokles und schliesslich Euripides. Er schilderte in seinem Stück 'Hekabe' das Nachkriegselend der Frauen im besiegten Troja.
Es ist eine allgemeingültige und zugleich einmalige Geschichte. Im Zentrum steht Hekabe, die Frau des ermordeten Trojanerkönigs Priamos. Zwei ihrer 50 Kinder sind ihr nur geblieben. Die schöne Tochter Polixene soll nun auch noch dem Siegesrausch der Griechen geopfert werden und nimmt das Urteil mit Stolz und Würde an. Brutale griechische Büttel reissen sie von der Seite der Mutter. Den Sohn Polydoros hatte man, versehen mit Gold und Silber, ins scheinbar sichere Ausland gebracht. Sie erfährt nun, dass er vom dortigen Herrscher aus Habgier getötet wurde. Hekabe hat nichts mehr zu verlieren. Unter dem Leidensdruck wird sie zur grausamen Rächerin am Mörder ihres Sohnes, den sie unter falschen Versprechungen anlockt.
Ein grossartiges Stück über männliche Gewalt und einen einzelnen, seltenen Versuch weiblicher Gegengewalt, wie er nur von einer Königin unternommen werden kann, die ihre letzten Machtmittel ausspielt.
Dieter Dorn, der langjährige Intendant der Münchner Kammerspiele, ist seit Beginn dieser Spielzeit Prinzipal des Residenztheaters, in das er viele seiner Schauspieler und auch seine 'Hekabe'-Inszenierung mitgenommen hat. Sie wirkt in diesem Rahmen unverändert zeitlos, stark und frisch. Auf der nackten lehmfarbenen Bühne gibt es nur eine schwarze hölzerne Dreieckbehausung, alle Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Menschen, die mit ihrer subtilen Schauspielkunst die ganze Qual des Nachkriegs in grandioser Eindrücklichkeit erstehen lassen.
Im Mittelpunkt Gisela Stein als Hekabe. Eine wunderbare Darstellerin, eine Meisterin des Wortes. Im ersten Teil des Stücks ist sie traumatisiert von den Keulenschlägen, die sie unaufhörlich ohne Gegenwehr ertragen muss. Jede neue Hiobsbotschaft nimmt sie seltsam gefasst entgegen, sodass ich es als Zuschauerin schwer hatte, den Todesschmerz in ihrem Inneren nachzuvollziehen. Im zweiten Teil steigert sie sich zur geradezu ekstatischen Rächerin, deren Getroffenheit sich wild und intensiv in der Vergeltung Bahn bricht.
Lambert Hamel (Agamemnon), Michael Maertens (Odysseus) und Helmut Stange (Taltybios) verkörpern bewundernswert die verschiedenen Formen der Sieger-Arroganz. Schön und eindrucksvoll ist Jens Harzer als nackter schwarzer Todesengel, als ermordeter Sohn der Hekabe, dessen Erscheinung aus dem Jenseits kommt. Ausgezeichnet Sophie von Kessel als Polyxene. Den Thrakerkönig Polymestor, der samt seinen Kindern Hekabes Rache erliegt, spielt Jörg Hube mit atemberaubender Ausdruckskraft.
In den altgriechischen Stücken sind die Protagonisten immer umgeben von mitsprechenden, mitlebenden Bürgerinnen und Bürgern, die chorisch oder einzeln die Handlung spiegeln, kommentieren, begleiten. In 'Hekabe' sind es sowohl die Frauen von Troja als auch die Dienerinnen der Königin, die hier sensibel und sehr gut geführt das Geschehen aus der Vereinzelung herausheben.
Angesichts dieser zeitlosen, aufs Substantielle bezogenen Inszenierung verstummen alle Erwägungen, wie modern oder traditionell die Klassiker der Weltliteratur aufgeführt werden sollen.
'Man kann auf der Bühne alles machen - wenn man es kann', sagte Bertolt Brecht.
Hier sind grosse Könner am Werk.
Seit 24. Oktober 2001 im Residenztheater München