Und lange Zeit war es mir unvorstellbar, aus einem Frauenkörper herausgekommen zu sein. Ich war wie Moses aus dem Wasser gefischt worden, aus einem Weidenkorb. Das änderte sich, als mein Zwillingsbruder mir einen Brief schrieb. Er sei froh, mich gefunden zu haben. Er habe unsere Mutter getroffen und einiges zu erzählen. Außerdem würde er mich gerne kennen lernen. Da war ich dreißig Jahre alt.“
Die freie Theatergruppe zwischenraum 48° um den Regisseur und Autor Dieter Nelle arbeitet derzeit an dem autobiographischen Theaterstück selber fremd. Erzählt wird die wahre Geschichte der Zwillingsbrüder D. und K. Panke, die gleich nach ihrer Geburt Ende der fünfziger Jahre in ein Kinderheim kommen, mit 14 Monaten in verschiedene Familien adoptiert werden und erst als Erwachsene von der Existenz des anderen erfahren. Bevor sich die Brüder das erste Mal wieder sehen, wissen Sie nicht, ob sie eineiige oder zweieiige Zwillinge sind. In dem Moment der Begegnung könnte die eigene Einmaligkeit ausgelöscht werden...
Die leibliche Mutter musste als Kind aus Pommern fliehen, ihre Eltern kamen im Bombenhagel um. Sie schlug sich durch und wuchs bei Pflegeeltern auf. Mit 20 Jahren hatte sie bereits vier Kinder von drei verschiedenen Männern zur Adoption freigegeben. Zwei davon: die Zwillinge K. und D. Beide wuchsen in bäuerlich-proletarischem Umfeld auf, aus dem sie sich später lösten: beide studierten, der eine wird Künstler, der andere Holzeinkäufer für ein großes Papierunternehmen. Mit 30 Jahren begegnen sie sich, der eine hat die leibliche Mutter ausfindig gemacht, der andere wollte ihr nie begegnen...
Ihr Leben ist geprägt von der Suche nach identitätsstiftenden Zusammenhängen und Zugehörigkeiten, von dem Versuch, heimisch zu werden – jeder auf seine Weise. Sie bleiben dennoch beide fremd in dieser Welt. Ihr außergewöhnlicher Fall wird zum Ausgangspunkt einer weitergehenden Recherche: Was macht unsere Identität aus? Was bedeuten uns unsere Wurzeln? Fragen also, die gerade heute, wo so viele ihre Heimat verlieren, an soziopolitischer Brisanz gewonnen haben. Denn am Ende zählt nur das eine: Wie soll die Gesellschaft aussehen, der wir uns wirklich zugehörig fühlen können?
Die Inszenierung
Die Geschichte wird in zwei parallel laufenden Strängen erzählt – mit jeweils anderen künstlerischen Mitteln für zwei sehr unterschiedliche Brüder: Die Biographie des Künstlers ist geprägt von dem Wunsch, die eigene Geschichte ins Fantastische zu überhöhen, zu verfremden und als künstlerisches Material zu verstehen. Poetisch-theatralische Szenen stellen die Perspektive des Kindes und des Jugendlichen in den Vordergrund. Der Bruder hingegen ist pragmatisch, nüchtern – er ist das prosaische Korrektiv und macht sich auf die Suche nach seiner Herkunft. Man erlebt ihn in kurzen Film-Statements oder als Interview-Partner. Mit den Mitteln des Dokumentartheaters rekonstruiert das Stück seine quasi kriminalistische Spurensuche nach seiner Herkunft, eine fast zweijährige Odyssee durch ganz Deutschland.
Dieter Nelle studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte und war Dramaturg und Regisseur am Stadttheater Ingolstadt, an den Städtischen Bühnen Münster, am Staatstheater Stuttgart und Bozen.
1997 bis 2001: Lehrauftrag in der Bühnenbildkklasse von Jürgen Rose an der Akademie der schönen Künste. 2012 bis 2013: Lehrauftrag an der Hochschule für Architektur, Oldenburg, Dramaturgie für Bühnenbild-Seminare bei Birgit Remuss Seit 2000: freier Regisseur und Dramaturg in München, Bozen (I), Zug (CH), Stuttgart, Berlin, Würzburg, Gera/Altenburg. 2004 bis 2011: Regisseur und Dramaturg am Theater Halle 7, München 2005: Gründung der Gruppe ZOOM+ Stuttgart zusammen mit der Bühnenbildnerin Monika Reichert und dem Schauspieler Christof Küster. 2009: Gründung der Gruppe zwischenraum 48° zusammen mit der Schauspielerin Britta Scheerer. Bislang entstanden drei Arbeiten: Eine Sommernacht, Tulpenwahn, Heimsuchung. Alle diese Produktionen wurden von der Stadt Stuttgart und/oder dem Land Baden-Württemberg gefördert. Dieter Nelle lebt in München. Seit 2013 ist er Vater eines Sohnes.
Produktion: zwischenraum 48°
Regie & Text: Dieter Nelle
Darsteller: Lieko Schulze, Caroline Sessler; Axel Brauch, Christoph Franz, Sebastian Schäfer
Kostüme: Marie Freihofer
Bühne: Dieter Nelle, Marie Freihofer
Dramaturgie: Britta Scheerer
Video: Alexander Schmidt / Interviews: Britta Scheerer, Klaus Schäfer
Produktionsleitung: Natasa Atanackovic
weitere Aufführungen: Mittwoch, 25. Februar / Donnerstag, 26. Februar / Freitag, 27. Februar / Samstag, 28. Februar 2015 – jeweils um 20:00 Uhr
Das Projekt wird gefördert von der Stadt Stuttgart und dem Landesverband freier Theater Baden-Württemberg e.V. aus Mitteln des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg.
Vorverkauf
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Mehr Informationen: www.ost-stuttgart.com