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Uraufführung im Ballhaus Ost Berlin: 'AUTISTISCHE SPIELE' VON TOBIAS YVES ZINTEL/PRZEMEK ZYBOWSKIUND ENSEMBLE Uraufführung im Ballhaus Ost Berlin: 'AUTISTISCHE SPIELE' VON TOBIAS YVES...Uraufführung im...

Uraufführung im Ballhaus Ost Berlin: 'AUTISTISCHE SPIELE' VON TOBIAS YVES ZINTEL/PRZEMEK ZYBOWSKIUND ENSEMBLE

Pemiere 12. März 2020, 20 Uhr

Durch die behutsame und doch distanzierte Be-obachtung seines autistischen Bruders erzählte der bildende Künstler und Regisseur Tobias Yves Zintel bereits in der filmischen Arbeit „Mental Radio“ (2012) vom Einbruch des radikal Anderen und des Nicht-Semantisierbaren in den Schutzraum der Familie. In „Autistische Spiele“ analysiert Zintel nun gemeinsam mit dem Psychiater und Autor Przemek Zybowski erneut jenes Spektrum, das sich zwischen den Polen ‚gesund‘ und ‚krank‘ auftut. Im biografischen Detail – dem Verhältnis eines „kranken“ Bruders zu seiner Familie –wird die Sozialfigur des Autisten als Allegorie für die Verlautbarung des Unsagbaren im derzeitigen öffentlichen Diskurs.

 

Copyright: Fotomontage Marcus und Tobias Yves Zintel

Speziell in der Diagnose des „psychisch Kranken“ formulieren sich Tendenzen zum Ausschluss aus der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Historische und aktuelle Sozialfiguren wie „Kranke“, „Narren“, „Wilde“ können  als  Gegenbild zum domestizierten Menschen gedeutet werden. Auch der medizinisch-pharmazeutische  Komplex  operiert auf  der Basis  der  Unterscheidung „gesund“/„krank“, der allein auf Heilung durch Symptombehandlung ausgelegt ist .Aber was passiert mit jenen als unheilbar Eingestuften,  denen  keine  Besserung  in  Aussicht  gestellt  werden kann? Der  filmischen  Arbeit  “Mental  Radio”  liegt  vornehmlich (auto)biografisches  Material  zugrunde,  um  das  Verhältnis  eines "kranken" Bruders zu seiner Familie zu beleuchten.

In “Autistische Spiele” werden Zintel/Zybowski in enger Zusammenarbeit mit den Performer*innen  über  das Biografische  hinausgehen,  um  die  Sozialfigur des Autisten im derzeitigen öffentlichen Diskurs herauszuarbeiten.Dokumente  wie  Arztberichte,  Videoaufzeichnungen  von Untersuchungen und von Zintels Bruder gemalte Bilder dienen dabei  als  Ausgangsmaterial,mit  denen  sich  die  Performer*innen eigenständig und künstlerisch auseinandersetzen. Eine der zentralen  Fragen  dabei ist, unter  welchen  politischen  Bedingungendas gesellschaftliche Abseits der Pathologisierten erzeugt wird? Über  Jahrhunderte  hinweg  wurden  autistische  Menschen  marginalisiert.  Eine  (negative)  Beschreibung  der  Figur  des  Autisten findet  sich  bereits  in  der  irischen  Mythologie  in  Form  des  "Wechselbalgs": Ein  Kind  wird  nach  der  Geburt  durch  einen  Alb  ersetzt, der dem Säugling bis aufs Haar gleicht, "but will have no heart; it will want to be left alone, will hold on to a piece of wood that re-calls its fairy home, and instead of speaking, it will croak and hum. If  the  mother  tries  to  caress  or  love  it,  it  will  laugh  and  spit  and take revenge with bizarre acts. The only solution is to throw it on abonfire."

Auch  Martin  Luther  sprach  sich  in  seiner  Tischrede  Nr. 5207 über Hexenglauben und Zauberei dafür aus, „Wechselbälger“töten zu lassen, denn sie seien nur ein Klumpen Fleisch ohne Seele. Aber  nicht  nur  im  Mittelalter  und  der  frühen  Neuzeit  wurden autistische  Menschen  marginalisiert.  Während  des  dritten  Reichs zeichnete  etwa  das  Kaiser-Wilhelm-Institut  für  Anthropologie  und die  dort  vertretene  menschliche  Erblehre  und  Eugenik  dafür  ver-antwortlich, dass Menschen mit physischer, psychischer und geistiger Behinderung als schlechterdings nicht lebenswerte Individuen eingestuft    und    resultierend    im    Rahmen    des    Euthanasie-Programmes „Aktion T4“ getötet wurden.

Erst ab den 1990er Jahren wurde das Recht auf Partizipation von Menschen mit Behinderung langsam politisch umgesetzt. Mit „Nothing About Us Without Us“ wurde von den Betroffenen ein Slogan gefunden, um sich dem gesellschaftlichen Ausschluss entgegenzustellen

TOBIAS YVES ZINTELwurde 1975 in Passau geboren. Er studierte  Konzeptkunst  an  der  Akademie  der  Bildenden  Künste  München bei  Joseph  Kosuth.  Seine  filmischen  Arbeiten  werden  bundesweit und  international  gezeigt,  zuletzt  bei  der  Transmediale  2020  in Berlin (D); davor bei Glasgow  International (GB), den Rencontres Internationales, Palais du Tokyo, Paris / HKW Berlin, in der Gallery PomPom, Sidney (AUS), der Doris MacCarthy Gallery, UTSC Toron-to  (CA),  der  Städtischen  Galerie  im  Lenbachhaus,  München  (D), bei  der  Videonale  14  &  15  im  Kunstmuseum Bonn  (D)  sowie  in Lagos und Moskau, im  Kunstpalais Erlangen (D), der Villa  Merkel, Esslingen (D), der Simultanhalle, Köln (D) u.a.Regelmäßig arbeitet Zintel  am  Theater,  u.a.  an  den  Münchner  Kammerspielen  (Doing Identity Festival, Bunny Hill I und II, Hauptschule der Freiheit), am Neumarkt Theater Zürich sowie am Ballhaus Ost Berlin. Er arbeitet als  künstlerisch-wissenschaftlicher  Mitarbeiter  an  der  Kunsthochschule für Medien in Köln und lebt in Berlin.

Performer*innen:Juno  Meinecke,  Janet  Rothe,  Tamara  Saphir, Rasmus  Slätis,  Simo  Vassinen

Regie:Tobias  Yves  Zintel
Autor:Przemek  Zybowski
Bühne  und  Kostüme:Sabina  Moncys
Sound Anh  Chi  Trinh
Lichtdesign und  Technische  Leitung  Fabian Eichner
Regieassistenz: Kallia  Kefala
Ausstattungsassistenz: Mara Gruß
Produktionsleitung:Annett Hardegen

 

 

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