
„breathe“ beschreibt die Freiheit und das Ersticken, führt vom belgischen Eupen 1917 (Gas) über die Spanische Grippe 1918/19 zu Hitlers Diktatur und zum Widerstand der Weißen Rose bis in die Gegenwart und schaut auf die Massenproteste, die Vereinzelung des Bürgers, die Schnelllebigkeit der Zeit, die angstvolle Stille, die gigantische Schuldenaufnahme des Staates, die wirtschaftlichen Bedrängnisse, den Widerstand der Schreibürger, die Angst vor dem einsamen Tod. Das Erstarken der AFD, die Infiltration der KSK, der Polizei: Sinnbild unserer Zeit.
Zwei dreißigminütige Filme von HFF-Studenten, die auf die Betonwand projiziert werden: Jemand hält Zwiesprache mit einem Fisch. Eine Richterin verschläft ihren Termin. Eine Frau mit verbundenen Händen sieht die Welt auf eigene Weise. Einem Studenten fällt die Bude auf den Kopf, dann erscheint ihm die Mutter Maria. Der Schauspieler zieht eine Stoßstange auf den Schuttberg. Man hört Auszüge aus der Freisler-Rede, aus Sophie Scholls Widerstands-Lied, am Ende eine Eisdiele am Strand, Mare Nostrum.
Der Spielort ist geschichtsträchtig: An der Völderndorffstraße beim Scheidplatz steht das Willi-Graf-Gymnasium. Der verschattete Ort vor der mit Graffitis überzogenen Rückwand des Gymnasiums an der Völderndorffstraße, den ein Sträßlein einbremst, schwingt sich gegenüber dem geteerten Weg zum lichten Hügel auf. Luft- und Sonnenhungrige schauen auf dem Gipfel des begrünten Schuttbergs über Schwabing West. Die Wanderer atmen auf den Trümmern ihrer Stadt. Wie eine Wehr sperrt sich die Wand der Bildungsstätte rau gegen das Vergessen. Wilde, fiebrige Farbsignale, auf die Betonplatten gehetzt, gesprüht, erzählen von Freiheit und Kampf. Ausgrenzung, Wut, die Einsamkeit der Widerstandskämpfer in der Nacht vor dem Schafott sind hier manifestiert. Gert Neuner: „Das Vergessen wächst wie das Gras den Hügel hinauf über die vergangene Schuld. Wir sollten uns daran erinnern, sie mit unseren heutigen Nöten abgleichen und unsere Ängste neu justieren.“
Der Blick über Schwabing ist der Blick auf die Vereinsamung der Bürger, auf die schlaflosen Nächte der um ihre Existenz Bangenden, auf die sichtbar geworden Risse in unserer Gesellschaft.
Der Regisseur, Autor und Performancekünstler Gert Neuner (ETA Theater, Stadt und Kunst e.V.) produziert seit 1983 experimentelle Theaterprojekte. Er experimentiert seit Anfang der achtziger Jahre in seinen Stücken mit Sprache, Bewegung, Ton und Raum, setzt mit filmischen Mitteln wie Schnitt, Gegenschnitt, Zeitlupe oder Rückblende Szenen zusammen oder zerschlägt sie und improvisiert mit seinen Schauspielern so lange, bis die Grenzen zwischen Montage und Demontage verschwimmen.