Zwischen Wagners erstem Kontakt mit dem Stoff und der Uraufführung seines Bühnenweihfestspiels liegen 37 Jahre. Die ambivalenten Gedanken eines ganzen Lebens fließen hier ein, die bei Wagner von radikalen demokratischen Positionen seiner Jugend und der Lektüre der religionskritischen Schriften Feuerbachs über die Beschäftigung mit buddhistischer Religion, Philosophie und Kunst bis hin zur späten, neu ausgerichteten Auseinandersetzung mit dem Christentum reichen.
„Wer kann ein Leben lang mit offenen Sinnen und freiem Herzen in diese Welt des durch Lug, Trug und Heuchelei organisierten und legalisierten Mordes und Raubes blicken, ohne zu Zeiten mit schaudervollem Ekel sich von ihr abwenden zu müssen?“, schreibt Wagner zwei Jahre vor seinem Tod. Seine utopische Antwort liegt in der Überwindung von Eigenliebe und Machtdenken zugunsten eines liebevollen Mitleids, einer mitleidsvollen Liebe als zentraler künstlerischer Aussage seines „Weltabschiedswerks“ „Parsifal“. Die Chance einer solchen Entwicklung gibt er seiner Titelfigur.
Im jungen Parsifal, einem unerfahrenen Naturburschen, scheint der Erlöser einer stagnierenden Gemeinschaft von Gralsrittern gefunden worden zu sein. Gestärkt vom Anblick des Grals folgen die zu absoluter Keuschheit verpflichteten Ritter ihrer Berufung, der Welt Gutes zu tun. Doch ist ihre Kraft geschwächt. Der Zauberer Klingsor hatte Amfortas, den Hüter des Grals, von Kundry verführen lassen, ihm in diesem Moment „sündhafter“ Schwäche den heiligen Speer entrungen und ihn verletzt. Amfortas leidet seitdem an einer Wunde, die bei jeder Gralsenthüllung blutet und ihm große Qualen verursacht. Hinzu kommt ein beißender Schmerz der Schuld. Nur derjenige, der „durch Mitleid wissend, der reine Tor“ ist, kann Heilung bringen, so eine Prophezeiung. Parsifal ist zum Zeitpunkt seines Eintreffens in der Gralsburg zwar ein Naivling, der fühlt, aber durch seine Unfähigkeit, das Erlebte einzuordnen und seinen Emotionen Sinn zu verleihen, begreift er die Leiden seiner Umgebung überhaupt nicht. Erst durch den Kuss der Kundry wird ihm die Gnade der plötzlichen Erkenntnis aller schuldvollen Zusammenhänge der Welt zuteil, wird er fähig zu Mitleid. Er zerstört Klingsors Zauberreich und gewinnt den heiligen Speer zurück. Auf seinem langen Rückweg zur Gralsburg wird er ihn niemals als Waffe benutzen, nie entweihen. Parsifal durchwandert die Welt und reift – nun selbst durch seine Erlebnisse gezeichnet - dazu heran, seine Erlösermission zu erfüllen. Die Weltwunde kann sich endgültig schließen.
Mit: Iordanka Derilova; Kostadin Arguirov/Nico Wouterse, Mark Bowman-Hester/Christoph Rosenbaum, Rainer Büsching, Richard Decker, Manfred Hemm, Christian Most/Pawel Tomczak, Ulf Paulsen
Musikalische Leitung Golo Berg
Inszenierung Johannes Felsenstein
Bühne und Kostüme Stefan Rieckhoff
Dramaturgie Susanne Schulz
Während der Intendanz von Johannes Felsenstein (ab 1992) wurde zunächst im Jahr 1992 „Rienzi“ (Regie: Peter Gogler) und 1995 „Lohengrin“ (Regie: Gottfried Wagner) neu einstudiert. Felsensteins erste Wagner-Inszenierung stammt aus dem Jahr 1998. Die Neuproduktion des „Fliegenden Holländers“ sorgte international für Aufsehen, so u.a. bei dem gefeierten Japan-Gastspiel im Jahr 2001. Daran anknüpfen konnte Felsenstein im Jahr 2006 mit seiner „Tristan und Isolde“-Inszenierung, die von Arthaus-Musik mitgeschnitten wurde und ab Herbst 2008 im DVD-Handel erscheinen wird. Johannes Felsensteins „Parsifal“-Inszenierung ist die fünfte szenische Produktion des Bühnenweihfestspiels am Anhaltischen Theater Dessau (Neuproduktionen 1925/26, 1931/32, 1938/39 und 1955/56). Der letzte Sänger des Parsifal bei einer szenischen Produktion war der deutsche Heldentenor Max Lorenz im Jahr 1957.