Wer sich dem Ballettklassiker "Giselle" nähert, bekommt es unweigerlich mit jeder Menge von Requisiten, Gesten und Gebärden zu tun. Mancher Plunder ist darunter, der getrost in den Archiven der Musikgeschichte verstauben mag. Aber auch die eine oder andere Frage, die noch jede Aufführung dieses Stücks mitbestimmt hat: Wie hält man es zum Beispiel mit jener schaurig-schönen Geisterwelt, wie sie bei der Uraufführung 1841 durch den Einsatz von Gaslampen und anderer moderner Techniken beschworen wurde? Was macht man aus einer Geschichte, die zwar mit einer genialen Musik daherkommt, sich ansonsten aber in romantischen Klischees und Versatzstücken zu erschöpfen scheint? Und nicht zuletzt: Wie geht man mit einer in all ihren Details so überreichen Aufführungstradition um? Schließlich gilt "Giselle" als Inbegriff des klassisch-romantischen Balletts und seiner Ausdruckssprache.
Dass Amanda Millers Antwort auf all diese Fragen zumindest ungewöhnlich ausfallen würde, zeigt bereits der Blick ins Programmheft. Da werden Sätze des Dalai Lama, von Lukrez oder Matthias Claudius zitiert, vor allem aber karge Verse von Rainer Maria Rilke: "Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen." Oder: "Sie hatte keinerlei Geschichte, / ereignislos ging / Jahr um Jahr / auf einmal kam mit lauter Lichte... / die Liebe oder was das war." Von einem solchen Wesen also, schwerelos und verinnerlicht, möchte die Prinzipalin des Pretty Ugly Tanz Köln in ihrer Produktion "Giselle - on love and other difficulties" erzählen. So kann es kaum überraschen, dass von den oben erwähnten Versatzstücken keine Rede sein kann: Die Bühne ist weitgehend leer geräumt, Weiß die bestimmende Farbe. Es herrscht die Atmosphäre eines auf das Wesentliche konzentrierten japanischen Zen-Gartens - angesichts dieser Tabula rasa ist all das, was man von "Giselle" wusste oder zu wissen glaubte, längst hinter dem Bühnenhorizont verschwunden. Die wenigen Requisiten, deren die Aufführung trotz allem bedarf, machen sich als bedeutungsvolle Zeichen geltend...
Inmitten dieser Szenerie nun die nah an der Originalvorlage erzählte, wenngleich nicht immer so ganz wiedererkennbare Geschichte - und die hat in Gestalt von Flavia Tabarrini einen sehr sympathischen Star, der der mehr und mehr in den Wahnsinn abgleitenden Hauptfigur kaum etwas schuldig bleibt. Dabei haben die von ihr und der übrigen Tanztruppe (allen voran Michael Maurissens als Prinz und Ruben Reniers als Hilarion) vorgeführten Schrittfolgen und -kombinationen etwas merkwürdig Uneigentliches an sich: Stets schimmert das klassisches Vokabular durch - aber doch so, als wäre es in einer nicht eindeutig bestimmbaren Weise zitiert oder reflektiert. Ironie kann man dieses Verfahren wohl kaum nennen, zumal die Musik dazu in nimmermüdem Strom ein melodisches Kaninchen nach dem anderen aus ihrem Zauberhut entlässt. Überhaupt stellt sich die Frage, ob Adolphe Adams opulente, durch und durch vitale und robuste Partitur so recht zum verinnerlichten Ansatz von Amanda Miller passen will. - "Noch immer weiß ich nicht, wie ich ausdrücken soll, was ich wirklich fühle, was ich wirklich sehe, es ist eine Erinnerung, kein Beispiel, kein Spiel oder Realität." - diese von der Choreografin in der Probenphase bekundete Offenheit ist jedenfalls sehr viel nachvollziehbarer als manche Kritiken, die diese hochpoetische Kölner "Giselle" nun gleich mit dem "Tanz der Zukunft" in Verbindung bringen möchten.
Premiere: 19. Oktober 2006