Die Schankwirtin, einst schön und jung, singt jeden Abend dasselbe Lied. Ihr Sohn, dessen Geburt ein dunkles Geheimnis umgibt, wird von allen gemieden. Die Försterstochter, seine einzige Vertraute, zieht die Blicke der Männer auf sich. Ein junger Graf, der das Schloss seines Vaters ansonsten kaum verlässt, verfolgt sie des Nachts. Und schließlich - ein irrer Musikant, der jedes Jahr zur selben Zeit im Ort Feuer legt.
Was vor dreißig Jahren in dem kleinen Ort Irrelohe und auf dem gleichnamigen Schloss passierte, darum kreist die Handlung von Franz Schrekers Oper. Szene um Szene wird Spannung geschürt, nähert sich unweigerlich der Eklat. Auf den ersten Blick scheint das Werk einem jener Schauerromane entsprungen zu sein, die der Komponist gerne las. Tatsächlich jedoch beinhaltet IRRELOHE, auf dem Zenit von Schrekers künstlerischer Laufbahn in den frühen zwanziger Jahren entstanden, mehr als nur die Sehnsucht nach einer mittelalterlich düsteren Welt voller Geheimnisse. Zwei grundlegende Strebungen menschlichen Daseins, die einander widersprechen und bedingen, stehen im Zentrum des Werkes: Ohne die Kraft der Formgebung keine Ordnung in der Welt und kein soziales Miteinander, ohne die Kraft der Stoffwerdung keine Vielfalt und Lebendigkeit. IRRELOHE sucht zu ergründen, inwieweit diese Kontradiktion unser Leben bestimmt.
Schreker lernte das Zwei-Kräfte-Modell über die Lektüre von Otto Weiningers erratischer Studie Geschlecht und Charakter von 1903 kennen. Aber die Spuren führen bis tief in die Geschichte. Nietzsche ordnete den beiden Kräften die griechischen Gottheiten Dionysos und Apoll zu, den Rausch und den Traum. Schiller spricht von Stoff- und Formtrieb, die chinesische Philosophie kennt Yin und Yang. Alle Interpreten des Zwei-Kräfte-Modells teilen die Ansicht, dass der Mensch beide Strebungen, das Dionysische und das Apollinische, in sich trägt und dass Konflikte somit unvermeidbar sind. Schreker, der dem geistesgeschichtlichen Umfeld des Wiener fin de siècle entstammt, trieb diesen Ansatz ins Extrem. Unter dem Eindruck der Psychoanalyse Sigmund Freuds schuf er zutiefst zerrissene Charaktere, die an einem Leben im Selbstwiderspruch zu zerbrechen drohen. Der Mythos vom Erbfluch, der auf den Grafen von Irrelohe lastet, ist genau das: ein Mythos. Es gilt hinter seine Maske zu schauen.
Musikalisch orientiert sich IRRELOHE an Schrekers frühen Opern, insofern als die Musik zum tönenden Bewusstseinsstrom der Figuren wird. Minutiös wie ein Seismograph zeichnet sie das Entstehen und Vergehen psychischer Regungen nach. Themen und Motive befinden sich ständig im Fluss, und ihre Gestalt erscheint umso deutlicher je bewusster das Gefühl oder die Erinnerung. Die schillernde Instrumentation und die fließenden Übergänge, die Schreker einst den Ruf eines "Klangzauberers" einbrachten, treten in IRRELOHE in den Hintergrund zugunsten linearer Kompositionstechniken, scharfer Dissonanzen und einer von Schlagwerk und Blechbläsern dominierten Partitur. Der wachsende Einfluss der Neuen Musik ist deutlich zu spüren, deren Entwicklung Schreker als Leiter der Berliner Musikhochschule ab 1920 maßgeblich mitgestaltete.
Generalmusikdirektor Stefan Blunier, der mit ELEKTRA, KRÓL ROGER und DER GOLEM bereits eindrücklich Interesse am Musiktheater des frühen 20. Jahrhunderts bewies, dirigiert das Beethoven Orchester Bonn.
Nach CARDILLAC und DIE TOTE STADT bringt Generalintendant Klaus Weise erneut ein Schlüsselwerk der Moderne auf Bühne, dessen psychologische und gesellschaftskritische Perspektiven sich als zeitlos aktuell erweisen.
Musikalische Leitung: Stefan Blunier
Inszenierung: Klaus Weise
Bühne: Martin Kukulies
Kostüme: Fred Fenner
Licht: Thomas Roscher
Choreinstudierung: Sibylle Wagner
Graf Heinrich, Herr auf Irrelohe: Roman Sadnik
Eva: Ingeborg Greiner
Die alte Lola: Daniela Denschlag
Peter, ihr Sohn: Mark Morouse
Christobald, ein Hochzeitsspieler: Mark Rosenthal
Chor des THEATER BONN
Beethoven Orchester Bonn
Aufschluss über dieses nahezu vergessene Meisterwerk des Fin-de-siècle bietet ein Buch, das im Verlag Are Musik unter dem Titel FEUER MUSS FRESSEN, WAS FLAMME GEBAR Schrekers Oper IRRELOHE als Schlüsselwerk des modernen Musiktheaters analysiert. Geschrieben hat es die junge Musikwissenschaftlerin Janine Ortiz, die derzeit an der Bonner Oper engagiert ist und hier die Neuinszenierung der Schreker-Oper dramaturgisch betreut. Vergangenen Sonntag wurde sie in einem feierlichen Festakt im Bockenheimer Depot Frankfurt als neue Stipendiatin in die „Akademie Musiktheater heute“ aufgenommen - ein von der Deutschen Bank initiiertes, zweijähriges Förderungsprogramm für zukünftige Führungskräfte der Oper.