Nun darf sich auch das Stuttgarter Publikum auf die hiesige Erstaufführung des dramatischen Balletts durch das Stuttgarter Ensemble freuen. Neumeiers Othello formuliert eine Annäherung an den komplexen Stoff Shakespeares in zwei mal zehn Bildern, in denen der Tanz die Brücke von der Renaissance zur Gegenwart schlägt. Die zeitlose Gültigkeit des Themas unterstreicht ein musikalisches Konzept, in dem sich brasilianische Percussion mit Kompositionen der Renaissance und der europäischen Moderne verbindet.
Mit den von John Neumeier für Márcia Haydée geschaffenen Literaturballetten
Die Kameliendame und Endstation Sehnsucht führt das Stuttgarter Ballett seit
Jahrzehnten zwei höchst erfolgreiche Werke des Hamburger Ballettintendanten im Repertoire. Die Stuttgarter Erstaufführung von Othello erweitert das hier gepflegte Spektrum der modernen Handlungsballette um eine weitere wesentliche Facette.
Die Titelrolle übernimmt der Erste Solist Jason Reilly, der mit seiner dramatischen Ausdruckskraft und technischen Bravour eine Vielzahl der großen männlichen Hauptrollen beim Stuttgarter Ballett auf der Bühne glänzen läßt. An seiner Seite tanzt die Erste Solistin Katja Wünsche, ebenfalls eine profilierte Interpretin herausfordernder Ballettpartien, die Rolle der Desdemona. Als weitere Besetzung der Titelrolle wird zu einem späteren Zeitpunkt Alexis Oliveira zu sehen sein, mit Elizabeth Mason als Desdemona.
John Neumeier ist seit 1973 Ballettdirektor und Chefchoreograph, seit 1996
Intendant des Hamburg Ballett. Er wurde 1942 in Milwaukee/Wisconsin, USA,
geboren und erhielt den ersten Ballettunterricht in seiner Heimatstadt, später in Kopenhagen und an der Royal Ballet School in London. An der Marquette University in Milwaukee erwarb er den akademischen Grad eines Bachelor of Arts in Englischer Literatur und Theaterwissenschaften. 1963 wurde er in London von Márcia Haydée und Ray Barra entdeckt und daraufhin von John Cranko an das Stuttgarter Ballett engagiert, wo er später zum Solotänzer avancierte und seine ersten Choreographien schuf.
Ulrich Erfurth berief ihn 1969 als Ballettdirektor nach Frankfurt. John Neumeier
erregte sehr schnell Aufsehen, vor allem durch seine Neudeutung so bekannter
Ballette wie Der Nussknacker, Romeo und Julia und Daphnis und Chloë. August
Everding holte ihn 1973 nach Hamburg. Unter Neumeiers Direktion wurde das
Hamburg Ballett zu einer der führenden Compagnien in der deutschen Tanzszene und erhielt sehr bald internationale Anerkennung.
Als Choreograph galt Neumeiers Hauptinteresse von Anfang an der großen Form, dem abendfüllenden Ballett, der Weiterführung und Erneuerung der Tradition. Dieser fühlt er sich bei seinen Neufassungen der klassischen Handlungsballette besonders verpflichtet, während er in seinen Neuschöpfungen eigene Erzählformen suchte: etwa in der Artus-Sage und in einer Reihe von Shakespeare-Balletten, wie z.B. Ein Sommernachtstraum, Hamlet und VIVALDI oder Was ihr wollt, sowie auch in den für Márcia Haydée geschaffenen Literaturballetten Die Kameliendame und Endstation Sehnsucht. Weltweite Anerkennung fanden ganz besonders seine Adaption des Ibsenschen Peer Gynt und seine Choreographien zu Sinfonien von Gustav Mahler, die choreographische Gestaltung von Bachs Matthäus-Passion, Mozarts Requiem, des Händelschen Messias und J.S. Bachs Weihnachtsoratorium.
Als Gastchoreograph hat John Neumeier u.a. wiederholt beim American Ballet
Theatre, New York, gearbeitet, für das er 1999 Getting Closer choreographierte, beim Royal Ballet in London, für das er zur Wiedereröffnung des Royal Opera House‘s Covent Garden Lento kreierte, und beim Tokyo Ballet, zu dessen 35jährigem Bestehen im Jahr 2000 er Seasons – The Colors of Time schuf.
Im Frühjahr 2001 kreierte er als erster westlicher Choreograph seit rund 100 Jahren ein Ballett für das Mariinsky-Theater in St. Petersburg: Sounds of Empty Pages, dem 1998 verstorbenen Komponisten Alfred Schnittke gewidmet. Im April 2005 eröffnete er mit der Uraufführung von Die kleine Meerjungfrau, eine Hommage an den dänischen Dichter Hans Christian Andersen zu dessen 200. Geburtstag, das neue Opernhaus in Kopenhagen. Er choreographierte Werke für das Ballet de l’Opéra National de Paris, die Ballettcompagnien der Staatsopern in Wien, München und Dresden, für das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, das Ballett der Deutschen Oper in Berlin, das Stuttgarter Ballett, das Königlich Dänische Ballett, das Königlich Schwedische, das Finnische Nationalballett, das Ballet du XXe Siècle in Brüssel, das Royal Winnipeg Ballet, das National Ballet of Canada und das Ballet du Grand Théâtre de Genève.
John Neumeier erhielt eine Fülle von internationalen Preisen und Auszeichnungen, zuletzt den Deutschen Jubiläums-Tanzpreis 2008. Er ist Ehrenbürger der Freien und Hansestadt Hamburg, die ihn 1987 zum Professor ernannte und ihn 2003 mit der Medaille für Kunst und Wissenschaft des Senats auszeichnete. Weltweit wurde John Neumeier für sein choreographisches Werk mit den höchsten Ehrungen in den Sparten Tanz und Theater bedacht.
OTHELLO
Ballett von John Neumeier nach William Shakespeare
Musik Naná Vasconcelos, Arvo Pärt, Alfred Schnittke u.a.
Choreographie, Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme John Neumeier
Uraufführung 27. Januar 1985, Hamburg Ballett, Kampnagelfabrik Hamburg
Erstaufführung beim Stuttgarter Ballett 24. April 2008
Besetzung am 24.4., 29.4., 3.5.2008
Othello Jason Reilly
Desdemona Katja Wünsche
Jago Marijn Rademaker
Emilia Sue Jin Kang
Cassio Alexander Jones
Brabantio Douglas Lee
Bianca Myriam Simon
Weitere Vorstellungen: Sa 26., Di 29. April, Sa 03., Fr 09., Sa 10.,
Do 22. (nm + abd), So 25., Fr 30. Mai, Fr 06. Juni 2008