
Das Stück beginnt in dem Moment als der regierungsmüde König Lear sein Reich an seine drei Töchter übergeben möchte. Er fordert sie zu einem Liebesbeweis auf, einem Wettstreit gleich. Goneril und Regan, die beiden älteren Töchter umschmeicheln ihn, während die jüngste Tochter, zugleich seine Lieblingstochter, Cordelia sich nicht durch einschmeichelnde Worte bei ihm lieb Kind machen möchte und stattdessen kund tut, dass Liebe nicht allein dem Vater zustehe, sondern auch dem Ehegatten. Da er mit dieser Antwort nicht zufrieden ist, verstößt er Cordelia und übergibt sein Reich an Goneril und Regan unter der Bedingung, dass er Rechte, Titel und Würde behält, zudem will er bei ihnen wechselnd Quartier nehmen. Der Konflikt ist vorprogrammiert. Eigentlich sind sich die beiden spinnefeind, aber einig, wenn es um das Ausbooten des Vaters geht. Unter dem Vorwand, dass er cholerisch und aggressiv sei und sich nicht untertänig zeigt, setzen sie ihn vor die Tür und nehmen so Rache an seinem tyrannischen Verhalten.
Lear muss erkennen, dass er unklug gehandelt hat. Er verzweifelt an der allmählichen Einsicht, dass er seinen eigenen Charakter und den Charakter und das Verhalten der anderen fehl eingeschätzt hat und sucht im Wahnsinn seine Zuflucht. Es ist also nicht so sehr das Alter mit seinen wachsenden Gebrechen und einer eventuellen Demenz, sondern die wachsende Erkenntnis der Selbstüberschätzung, die ihn plagt.
Die Heide mit ihrem Gestrüpp wird zum Ort der Erkenntnis des persönlichen Scheiterns. Im Bühnenbild von Etienne Pluss ist dies ein Müllabladeplatz mit brennendem Container, Sinnbild des sozialen Abstiegs, und steht im starken Kontrast zu dem düsteren, pompösen, renaissancehaften Interieur der Familienburg, in der sich die Töchter in überaus raumgreifenden Reifröcken nur steif bewegen können. Einzig der Narr bleibt Lear als Begleiter, aber nur solange bis er begreift. Am Hofe Ist der Narr nicht nur Spaßmacher, der mit derben Witzen, die Hofleute bei Laune hält, sondern auch der Einzige, der wenn auch verschlüsselt, die Wahrheit kundtun kann, wobei er sich meist auf gefährlichem Eise bewegt, wenn die Worte oder der Moment nicht gut gewählt ist. Der Narr bei dem entmachteten Lear hat jedoch nichts mehr zu befürchten, über seine verklausulierten Sinnsprüche wird verwundert nachgedacht.
Durch die Konzentration in Titovs "König Lear"-Version auf die reine Vater-Töchter-Beziehungen und den Identitätsfindungsversuch Lears verliert die Figur des Edmund ihre Motivation im verbleibenden Reststück. Edmund wird zur bloßen Liebhabermarionette von Goneril und Regan und ist nicht mehr ebenbürtiger Partner in der Boshaftigkeit und Intrigenfähigkeit.
Auch der Schluss verliert in Titovs Inszenierung seine wesentliche Dramatik und kommt etwas unvermittelt daher. Die Shakespear'sche Formel des Antagonismus von Gut und Böse greift hier nicht mehr so ganz. Das Stück verliert von seiner Ausdruckskraft. Nichtsdestotrotz überzeugen die großartigen Schauspielerleistungen. Burghart Klaußner begeistert in der Titelrolle des Lear in seiner facettenreichen Entwicklung vom allmächtigen Herrscher über den störrischen Alten zum verzweifelten Narren und sanften Vater. Anne Müller überzeugt als pfiffiger, körperlich und geistlich beweglicher Narr. Als verbiesterte Schwestern zeigen Jenny Schily als Goneril und Friederike Wagner als Regan wie man Hartherzigkeit wortgewandt verkauft. Jule Schuck als sanfte Cordelia tritt leider nur kurz auf.
Das Publikum zeigte sich begeistert und dankte mit anhaltendem Applaus.
"König Lear" von William Shakespeare
Deutsch von Frank Günther
Besetzung
König Lear: Burghart Klaußner
Goneril: Jenny Schily
Regan: Friederike Wagner
Cordelia: Jule Schuck
Kent: Manuela Alphons
Edmund: Valentin Stückl
Narr: Anne Müller
Regie: Evgeny Titov
Bühne: Etienne Pluss
Kostüm: Esther Bialas
Musik: Moritz Wallmüller
Licht: Konstantin Sonneson
Dramaturgie: Janine Ortiz