Eng verwoben oder lose verknüpft, wir betrachten ein Geflecht von Schicksalen, wie sie für das Leben in der westereuropäischen, grossen, geschäftigen City typisch sind. Trash ist die erfolgsorientierte, quirlige Single-Frau um die Dreissig, in der Werbebranche tätig, immer auf der Suche nach dem noch besseren Job und dem noch tolleren Mann. Vor ihrem hartnäckigsten Liebhaber, einem jungen Arzt namens Quiek, wird sie auf dieser Suche bis fast zum Schluss immer wieder fliehen.
Hen ist ihre beste Freundin und verkörpert das Kontrastprogramm. Sie nistet seit 6 Jahren beständig mit dem Bauarbeiter Al zusammen und erwartet in Kürze ihr erstes Baby. Al wird sich vor dieser Herausforderung als untreuer Schwächling erweisen und sein Familienglück verspielen. Hen arbeitet noch hochschwanger in einer Beratungsstätte und trifft dort Gloria, deren Mann Marvin kurz vor der silbernen Hochzeit spurlos veschwunden ist. In Wirklichkeit haust er frei und allein in einem Obdachlosenheim um die Ecke und könnte ihr jederzeit über den Weg laufen. Es wird sogar geschehen, ohne dass die beiden es im Menschengewimmel bemerken.
Im Schwimmbad plaudert Gloria hie und da mit Quiek über die Frage, ob sie ihr ausgeleiertes Eheleben überhaupt zurückhaben möchte. Ihr abgetauchter Mann putzt die Wohnung von Nathan, einem jungen Marktforscher, der es nicht verkraftet, dass ihn seine Frau verlassen hat. Nathan arbeitet gelegentlich mit Trash, und sie versuchen es auch sonst halbherzig miteinander. Aber Nathan wird seinen Verlust nicht verwinden und schliesslich still und leise Selbstmord begehen.
Grosse Einsamkeit am Ende, allenfalls Trash und Quiek haben dank Quieks beständiger Zuwendung eine kleine Chance auf Gemeinsamkeit.
Angst vor Bindung. Angst vor Einsamkeit. Und über allem die mediengestützte Gier nach dem ultimativen Glückserlebnis, vor dem das alltägliche Glück meistens nicht bestehen kann. Im Bann dieser Zeichen unserer Zeit bewegen sich sieben Menschen, scheinbar willkürlich herausgegriffenen aus dem Grossstadtdschungel. In Abi Morgans Stück "Zärtlich" werden sie so eindringlich geschildert, so genau und sensibel, dass sie uns nicht nur ans Herz wachsen, sondern auch zum Beispiel werden für das Leben überhaupt, für den Menschen in seiner ewigen Zerrissenheit.
Abi Morgan ist eine junge, schon sehr erfolgreiche englische Autorin, deren Stücke auch im deutschen Sprachraum Anklang fanden, unter anderem in Berlin, Zürich und Mannheim. Ihre Stärke ist nicht die Originalität der Sprache, ihre Figuren sprechen in einem natürlichen, unscheinbaren Alltagsjargon, den sie meisterhaft der Wirklichkeit ablauscht und auf die Bühne überträgt. Ihre Stärke ist die dramatische Komposition. Die eigentlich unscheinbare Handlung entwickelt sich so spannend, in einem so zwingend logischen Ablauf von Szenen, so selbstverständlich, dass der Zuschauer
keinen Augenblick unbeteiligt bleibt. Im Gegenteil, er ist als Beobachter in das Geschehen mit einbezogen, weiss scheinbar immer etwas mehr mehr als die handelnden Personen und fühlt sich fast so, als ob er vor der Handlung herliefe und auf sie zurückschaue. Ein sehr raffiniertes, souverän geführtes dramaturgisches Mittel, ein hervorragendes, überzeugendes Stück. Ein Stück zur Theaterkunst geronnene Wirklichkeit.
Zärtlich. Der Titel klingt wie ein Wunschtraum. Zärtlichkeit. Selten gab es in einem Stück so wenig Zärtlichkeit, und so viel Sehnsucht danach. Wie im Leben. Wie im Leben?
Die Inszenierung der deutschen Erstaufführung am Schauspiel Essen von Volker Schmalöer ist ehrlich, werkbezogen, ganz ohne Eitelkeit, behutsam und genau. Das Bühnenbild von Sabine Böing zeigt auf nackter schwarzer Bühne ein lackweisses Podest mit niedriger Rückwand. Es präsentiert alle Vorgänge wie auf dem Operationstisch, schön und ausgestellt. Links davon ein Kühlschrank, rechts ein altes Waschbecken, im Hintergrund manchmal ein abstrahiertes Lichtbild von Strand und Wasser.
Sabine Osthoff spielt eine herrlich kratzbürstige Trash, Nico Link einen schlicht überzeugenden Quiek, Anja Schiffel eine intensive Hen, Axel Holst einen differenziert-primitiven Al und Maximilian Giermann einen in seiner Verzweiflung höchst anrührenden Nathan. Ganz grossartig Karin Schroeder als ältliche verlassene Ehefrau, und besonders wunderbar Klaus-Peter Wilheim als ihr ausgebüchster Mann Marvin.
Das Schauspiel Essen wagt einen stark auf die Moderne ausgerichteten Spielplan mit sozialkritischen Akzenten. "Zärtlich" ist ein funkelnder Edelstein in dieser Kette.
Premiere am 20. Juni 2003 im Grillo-Theater in Essen