Und obgleich Tschechow das Stück nach seiner Fertigstellung eine „Komödie“ nannte, wird es doch wieder von jener einzigartigen „tschechowschen“ Mischung aus Leichtigkeit und Humor, aber eben auch Skepsis, milder Bitternis und Melancholie durchzogen. Tschechow, selbst praktizierender Arzt,
wusste, dass sein Ende nahte, und dieses Wissen spiegelt sich in den vielen Abschieden wieder, die er im Kirschgarten hat einfließen lassen. Denn darum ging es ihm eigentlich – um den Abschied. Von einer feudalen Gesellschaftsschicht, die sich in Russland zu diesem Zeitpunkt bereits überlebt hatte.
Von eingefahrenen Ritualen, Denkmustern, Lebensweisen. Abschied von einem alten Leben, um einen (unsicheren) Aufbruch in ein neues zu ermöglichen. Darum lässt Tschechow den Kirschgarten folgerichtig mit der Ankunft der hoch verschuldeten Gutsbesitzerin Ranjewskaja beginnen, die nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt zu Familie und Anwesen zurückkehrt - dem berühmten Kirschgarten droht die Zwangsversteigerung.
Der Kaufmann Lopachin zeigt einen vermeintlichen Ausweg auf: der alte Kirschgarten blühe nur zwei Wochen im Jahr, das sei zwar ästhetisch reizvoll, aber ökonomisch leider vollkommen nutzlos, daher schlage er vor, die Bäume kurzerhand abzuholzen, das Land in Parzellen aufzuteilen und gewinnbringend an Sommerfrischler aus der Stadt zu verpachten. Die Familie ist entsetzt. Sie kann sich nicht vorstellen, dass die verschwenderische Pracht des Kirschgartens, an dem zudem so viele Erinnerungen hängen, etwas derart Profanem wie ein paar Schulden geopfert werden müsse. So kommt es, wie es kommen muss – Lopachin selbst ersteigert Gut und Grundstück, und setzt seinen Plan in die Tat um. Die Familie fällt auseinander und strebt mit ungewissen Zukünften in alle Himmelsrichtungen.
Seit jeher eignen sich gerade die Stücke Tschechows, mittels einer interpretatorischen Lesart auf heutige gesellschaftliche Zustände zu verweisen. So zeigen Die Drei Schwestern und Der Kirschgarten wahlweise die allgemein herrschende Stagnation oder eben den dauernden Konflikt zwischen dem Wunsch nach Tradition und der Notwendigkeit zur Erneuerung auf. Meist wird die Frage in Lopachins Sinne entschieden, doch was verliert eine Gesellschaft, die den Nutzen einer freigiebigen, letztlich aber unökonomischen Ästhetik negiert?
Inszenierung: Christian von Treskow
Bühne: Jürgen Lier
Kostüme: Dorien Thomsen
Musik: Sebastian Weber
Dramaturgie: Oliver Held
Mit:
Thomas Braus, Oliver Held, Gregor Henze, An Kuohn, Maresa Lühle, Juliane Pempelfort, Oliver Picker, Andreas Ramstein, Anne-Cathrin Studer, Hendrik Vogt, Lutz Wessel, Julia Wolff
Die nächsten Vorstellungen sind am 03./ 06./ 09. / 10. / 29. und 31. Oktober 2010 im
OPERNHAUS.