Logo of theaterkompass.de
HomeBeiträge
Warten auf die AusserirdischenWarten auf die AusserirdischenWarten auf die...

Warten auf die Ausserirdischen

Stück von Vera Kissel am Düsseldorfer Schauspielhaus

Der Boden steigt nach hinten leicht an und leuchtet in magischem Königsblau. Darauf gammelt ein Kneipenmobiliar, dessen Kümmerlichkeit zum Himmel schreit. Der Wirt hat das Lokal mit dem ominösen Namen 'Wegsend' gerade erst eröffnet, sieht sich aber durch ein nahes 'Fun Center' bereits der Pleite entgegentreiben. Heute ist Silvester; wird sich außer dem Stammgast, einem trunksüchtigen Opa, überhaupt Kundschaft hierher verirren?

 

Auch sonst ist für den geplagten Wirt (ausgezeichnet: Martin Schneider), das Leben ein Albtraum. Sein Kind ist im Säuglingsalter gestorben, seine Frau Marita (fabelhaft: Heidi Ecks) treibt seither in einer unheimlichen Wahnwelt dahin. Treibt von ihm weg. Arzt? Irrenanstalt? Dafür plädiert Maritas bodenständige Schwester, aber die Ratlosigkeit ist stärker.

 

Zumal Marita mit ihren Hirngespinsten ihre kleine Gefolgschaft gefunden hat. Ein blutjunges Pärchen im Sciene Fiction-Fieber, eine Witwe mit DDR-Vergangenheit und Todessehnsucht. Zu viert erwarten sie nun das Ufo der Außerirdischen, das nach ihrer Überzeugung um Mittemacht auf dem Parkplatz vor der Kneipe landen und sie an Bord nehmen wird, zum intergalaktischen Flug in die Ewigkeit. Es kommt wie es kommen muss. Der Wirt ist am Neujahrstag mit den Nerven am Ende, Marita will ihre neugewonnene Macht über schwache Seelen nicht verlieren, sie befiehlt das Anberaumen einer Pressekonferenz. Da bricht das Stück ab. Warum auch nicht? Wir können uns ja vorstellen, wie es enden würde. Hoffnungslos. Fruchtbarkeit ist offenbar zum Tod verurteilt, Koordinatensysteme sind brüchig, die Vergangenheit erdrückt uns, das Schlingern zwischen Raumschiff Enterprise und Weltschmerz führt ins Bodenlose.

 

Vera Kissels Sprache arbeitet auf zwei voneinander getrennten Ebenen. Dem gewitzten Jargon kleiner Leute im Ruhrpott und der verschlüsselten, suggestiven Poesiesprache von Maritas Phantasmenwelt. Zwischen beiden gibt es keinen Brückenschlag.

 

Genderalintendantin Anna Badora hat die Inszenierung des interessanten Dilemma- Stücks zur Chefinnensache gemacht. Sie verzichtete auf Glanz-Effekte, sie stellte sich ganz in den Dienst der Sprachkunst, in den Dienst des merkwürdigen Menschenhäufchens und seiner zum Tod verurteilten Beziehungen. Ich empfand es als wohltuend, einmal keine eigenmächtige, sondern eine subtile Regie zu sehen. Die Figuren wuchsen ins Allgemeingültige, blühten aber gleichzeitig bis in die feinsten Blutbahnen auf, so weit ihnen das in der allgemeinen Trostlosigkeit überhaupt möglich war. Umso schmerzhafter traf mich danach der unvermittelte Stückschluss, der keine Auflösung des gordischen Zustandsknotens mehr zulässt.

 

Die Poetin Vera Kissel ist in ihrem ersten Stück auf der Höhe des Zeitgeistes, gleichzeitig aber auch in seinem Gefängnis. Sie steuert der weit verbreiteten 'Endzeitkultur' originelle Töne bei. Das klingt wie ein verzweifelter Schlussakkord. Eine Endzeit aber, die zu Ende ginge, wäre keine Endzeit mehr. Ihre Geister müssten mindestens träumen von neuen irdischen Perspektiven, und solche sind offenbar hierzulande (noch) nicht gefragt. Wie sagt die Ossi-Oma im Stück so treffend? 'Hoffnung gibt es in der Diktatur'. Es war für mich der traurigste, schrecklichste Satz des Abends, er schnitt mir ins Herz. 'Es ist schade um die Menschen', sagte Strindberg. Vera Kissel meint das wohl auch. Ihr Stück sehe ich als eine ungeschönte, dichte, hochkünstlerische Momentaufnahme zum Jahrtausendwendepunkt.

Weitere Informationen zu diesem Beitrag

Lesezeit für diesen Artikel: 16 Minuten



Herausgeber des Beitrags:

Kritiken

GLUT UND FEUER -- Jubiläumskonzert 40 Jahre Kammersinfonie im Kronenzentrum BIETIGHEIM-BISSINGEN

1984 wurde dieser für die Region so bedeutende Klangkörper von Peter Wallinger gegründet. Unter der inspirierenden Leitung von Peter Wallinger (der unter anderem bei Sergiu Celibidache studierte)…

Von: ALEXANDER WALTHER

EINE FAST HYPNOTISCHE STIMMUNG -- Gastspiel "Familie" von Milo Rau mit dem NT Gent im Schauspielhaus STUTTGART

Dieses Stück erzielte bei Kritikern zum einen große Zustimmung, zum anderen schroffe Ablehnung. Vor allem die nihilistischen Tendenzen wurden getadelt. Der Schweizer Milo Rau hat hier das beklemmende…

Von: ALEXANDER WALTHER

MIT LEIDENSCHAFTLICHEM ÜBERSCHWANG -- Richard Wagners "Walküre" mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra konzertant im Festspielhaus/BADEN-BADEN

Wagner hatte die Komposition der "Walküre" im Sommer 1854 begonnen, noch vor der Vollendung der "Rheingold"-Partitur. Der Dirigent Yannick Nezet-Seguin begreift mit dem vorzüglich disponierten…

Von: ALEXANDER WALTHER

AUFSTAND DER UNTERDRÜCKTEN -- "Farm der Tiere von George Orwell im Schauspielhaus Stuttgart

"Kein Tier in England ist frei!" So lautet das seltsame Motto von George Orwells "Farm der Tiere", die wie "1984" auch irgendwie eine seltsame Zukunftsvision ist. Die Tiere wie Hunde, Hühner, Schafe…

Von: ALEXANDER WALTHER

VERWIRRUNG BIS ZUM SCHLUSS -- "Es war einmal ein Mord" von Giovanni Gagliano im Theater Atelier Stuttgart

Eine geschickt verwobene und raffinierte Handlung präsentiert Vladislav Grakovski in seiner Inszenierung des Kriminalstücks "Es war einmal ein Mord" von Giovanni Gagliano. Spannung, Humor und…

Von: ALEXANDER WALTHER

Alle Kritiken anzeigen

folgen Sie uns auf

Theaterkompass

Der Theaterkompass ist eine Plattform für aktuelle Neuigkeiten aus den Schauspiel-, Opern- & Tanztheaterwelten in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Seit 2000 sorgen wir regelmäßig für News, Kritiken und theaterrelevante Beiträge.

Hintergrundbild der Seite
Top ↑