Marco Goecke, seit September 2005 Hauschoreograph des Stuttgarter Balletts, hat mit seiner ebenso erfindungsreichen wie eigenwilligen Tanzsprache in kurzer Zeit das Publikum und die Kritik erobert. Konsequent entwickelte er in den sechs Jahren, die seit seinem choreographischen Debüt im Jahr 2000 vergangen sind, eine unverwechselbare Handschrift, die seine ganz eigene Ästhetik mit jedem neuen Stück präziser formulierte.
Nun hat er sich einer Ikone der Ballettgeschichte angenommen – und entdeckt viel Merkwürdiges hinter der Weihnachtsidylle. Der Nussknacker, 1892 am St. Petersburger Marientheater uraufgeführt, gehört zu den bekanntesten Balletten überhaupt. Erneut hatte der Komponist Peter Tschaikowsky mit dem Choreographen Marius Petipa zusammengearbeitet, zwei Jahre nach dem großen Erfolg ihres Balletts Dornröschen. Wegen einer Erkrankung Petipas wurde die Choreographie von Lew Iwanow realisiert, dennoch prägte Petipas Stil das Ballett deutlich. Die ungebrochene Beliebtheit des Werkes, das zur Weihnachtszeit auf Ballettbühnen weltweit im Spielplan steht, verdankt sich nicht zuletzt den zahlreichen Neufassungen, u. a. von George Balanchine, die sich dem zeitgenössischem Geschmack und länderspezifischen Weihnachtsgebräuchen annäherten. Die unmittelbare Vorlage für Tschaikowsky und Petipa war nicht die sehr skurrile, zuweilen düstere und oft verstörend doppelbödige Erzählung E.T.A. Hoffmanns (mit dem Titel Nussknacker und Mausekönig), sondern vielmehr eine für Kinder bearbeitete Nacherzählung aus der Feder Alexandre Dumas’ d. Ä.
Im Kern erzählen beide Versionen die Geschichte von Klara (bei Hoffmann: Marie), die zu Weihnachten von ihrem Paten Drosselmeier einen Nussknacker geschenkt bekommt. Beherzt rettet Klara ihren hölzernen Gefährten vor dem nächtlichen Angriff des Mausekönigs und wird zur Belohnung in das Reich der Zuckerfee geführt, nachdem sich der Nussknacker in einen Prinzen verwandelt hat. Die geheimnisvolle Mehrdeutigkeit der Hoffmann’schen Erzählung, die auf einer kaum verschleierten zweiten Bedeutungsebene vom Erwachsenwerden des Mädchens Marie handelt ging sowohl in Dumas’ Fassung als auch im Ballett von 1892 weitgehend verloren. Marco Goecke richtet seinen Blick – wie der Autor E.T.A. Hoffmann – auf die geheimnisvollen Begegnungen und Erfahrungen, die Klara im Lauf der Geschichte zu einer Persönlichkeit reifen lassen. Mit seiner Heldin schaut er hinter die dicke Fassade aus Zuckerguss, die das farbenprächtige Ballettspektakel aus dem zaristischen Russland zur perfekten Weihnachtsidylle macht. Wie man es von Marco Goecke kennt, ist sein Nussknacker-Szenario ein Reich der Dunkelheit, in dem sich eine magische Zwischenwelt entfaltet.
Der Reiz, sich mit dem Nussknacker zu beschäftigen, liegt für Marco Goecke nicht zuletzt in Tschaikowskys Musik, die auch in seiner Choreographie einen musikalischen Schwerpunkt bildet. Gleichzeitig reflektiert Goecke die gängigen Weihnachtsklischees auch auf musikalischer Ebene und stellt der hohen Kunst Tschaikowskys die hohe Kunst der Unterhaltungsmusik zur Seite. Marco Goecke choreographiert seinen Nussknacker für 21 Tänzer des Stuttgarter Balletts. Die Hauptrollen verkörpern Elena Tentschikowa, Alicia Amatriain, Stefan Stewart, William Moore und Roland Havlica.
Choreographie Marco Goecke
Musik Peter Tschaikowski u. A.
Bühne und Kostüme Michaela Springer
Dramaturgie Anja von Witzler
Produktionsassistenz Marieke Lieber