Spätestens seit seinem im August erschienenen autobiografischen Roman „Die Welt im Rücken“, der ihm nach seinem Romandebut „Sickster“ 2011 und „3000 Euro“ 2014 bereits die dritte Nominierung für den Deutschen Buchpreis einbrachte, steht Thomas Melle im Fokus der Aufmerksamkeit. Melle beschreibt in seinem erzählerischen Werk die Schattenseitenseiten einer Hochleistungs- und Konsumgesellschaft, interessiert sich für die von den Verhältnissen deformierten Charaktere und für jene, die in diesem System keinen rechten Tritt fassen können und sozial und psychisch durchs Netz zu rutschen drohen.
Auch als Theaterautor ist Thomas Melle eine wichtige zeitgenössische Stimme, die des vermag, die diffuse Moderne einzufangen und Figuren unterschiedlichster gesellschaftlicher Prägung und sozialer Herkunft Plastizität zu verleihen. Er schrieb für das Theaterhaus Jena, das LTT Tübingen sowie für das Theater Bonn und war mehrfach für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert.
Im Auftrag des Theater Bremen schrieb Thomas Melle nun das Stück „Ännie“. Vom Autor selbst als „Eine Romantik“ bezeichnet, ist „Ännie“ ebenso Kriminalgeschichte und Momentaufnahme gesellschaftlicher Ängste. Im Zentrum steht die Frage, wie stark die Herkunft einen Menschen determiniert und inwiefern Bildung ermächtigt, soziale Grenzen zu überwinden.
Mit Ännie entwirft Melle eine Figur, die in unterschiedlichen sozialen Schichten verortet ist: auf der einen Seite steht die alleinerziehende Mutter, die in einer Kneipe putzt, auf der anderen Seite der bildungsbürgerliche (Zieh-)Vater in gesicherten sozialen Verhältnissen. Bis zum Schluss aber bleibt Ännie ein Mysterium. Mosaikartig setzt sich das Bild des Mädchens aus Erinnerungen, Unterstellungen und Zuschreibungen zusammen. Hochintelligent, existenziell rebellisch, gefährlich, geliebt und gehasst, aber vor allem: abwesend. Zwei Jahre vor dem Abitur verschwindet Ännie spurlos. Was ist passiert und wer trägt Verantwortung? Vordergründig geht es um die Frage, ob Ännie Opfer eines Gewaltverbrechens wurde oder mit ihrem Leben brach, sich eventuell sogar radikalisierte.
Hintergründig aber wird gleichsam die Frage verhandelt, ob unsere Gesellschaft eine Person, die sie nirgendwo einzuordnen vermag, überhaupt ertragen kann oder ob diese Person von der Gesellschaft als Bedrohung empfunden wird und verschwinden muss. Melle wählt das Prinzip der Abwesenheit seiner Hauptfigur, um über gesellschaftliche und private Ängste zu erzählen. Die Trauer einer Mutter, die sich nicht mit dem möglichen Tod des Kindes abfinden kann, steht gleichberechtigt neben der Angst der Studienrätin, die sich angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen von ihren ehemals liberalen Standpunkten peu à peu zu entfernen scheint. Melle arbeitet in seinem Stück mit den Prinzipien elektronisch gesampleter Musik, stellt chorische, musikalische und monologische Elemente nebeneinander, durchwirkt den Text mit zahlreichen Zitaten unter anderem von Elfriede Jelinek, Ingeborg Bachmann und Fjodor Dostojewski, bedient sich aber genauso an verschwörungstheoretischen Diskursen aus dem Internet. Der Autor selbst sagt über das Stück, es sei „[…] dreckig. Ein Bastard. Es samplet, verfremdet und permutiert Gedankenfetzen [..].“
Die 1980 geborene Regisseurin Nina Mattenklotz studierte zunächst Medienkultur, bevor sie ihr Regiestudium an der Theaterakademie Hamburg aufnahm. Bereits einige ihrer im Studium erarbeiteten Inszenierungen wurden zu Festivals wie dem Körber Studio Junge Regie und dem Heidelberger Stückemarkt eingeladen. Seit ihrem Abschluss ist sie als freischaffende Regisseurin tätig und inszenierte unter anderem in Graz, Wien, Weimar, Stuttgart und Zürich. „Ännie“ ist nach den beiden Familienstücken „Pippi Langstrumpf“ und „Pünktchen und Anton“ ihre dritte Arbeit am Theater Bremen.
Regie: Nina Mattenklotz
Bühne: Johanna Pfau
Kostüme: Lena Hiebel
Musik: Albrecht Schrader
Dramaturgie: Simone Sterr
Mit: Martin Baum, Peter Fasching, Lisa Guth, Gabriele Möller-Lukasz, Susanne Schrader, Alexander Swoboda
Weitere Termine unter www.theaterbremen.de