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URAUFFÜHRUNG: "Aller Tage Abend" von Jenny Erpenbeck im Schauspielhaus Wien URAUFFÜHRUNG: "Aller Tage Abend" von Jenny Erpenbeck im Schauspielhaus Wien URAUFFÜHRUNG: "Aller...

URAUFFÜHRUNG: "Aller Tage Abend" von Jenny Erpenbeck im Schauspielhaus Wien

Premiere 31. Jänner 2014. -----

Der vielfach ausgezeichneten deutschen Schriftstellerin und Regisseurin Jenny Erpenbeck gelingt in ihrem jüngsten Roman Außergewöhnliches: In Aller Tage Abend, nominiert für den Deutschen Buchpreis 2012, macht sie die Tragödie des Einzelnen im Wahn & Sinn des 20. Jahrhunderts sichtbar.

Erpenbeck lässt ihre Protagonistin in dem in fünf Abschnitte gegliederten Roman fünfmal sterben, um den Tod in so genannten „Intermezzi“ um seine Irreversibilität zu bringen; je ein Detail in der Bewegung der Heldin auf ihr verfrühtes Ableben zu wird mittels Konjunktiv nachjustiert, modifiziert, revidiert – ihr Tod somit viermal ungeschehen gemacht, um ihr einen anderen Lebens(ver)lauf zu ermöglichen.

 

So endet die Vita der namenlosen jüdischen Heldin bereits nach acht Monaten erstmals tödlich: Sie stirbt 1902 an der Peripherie der k. u. k. Donaumonarchie im galizischen Brody, Geburtsort Joseph Roths und Zentrum jüdischer Schtetlkultur, den plötzlichen Kindstod, denn Aller Tage Abend erzählt auch die desaströse Geschichte des europäischen Judentums im 20. Jahrhundert entlang einer matriarchalen Linie: von antisemitischen Pogromen in Galizien über den Untergang der Monarchie, von fatalen Hungersnöten im Wien der 1920er-Jahre, von der Illegalität des kommunistischen Widerstands im aufkeimenden Faschismus, von trotzkistischen Utopien und stalinistischen Schauprozessen im Moskau der 1940er- und 1950er-Jahre, von politischem Terror und sibirischen Arbeitslagern, von der DDR-Nomenklatura und Schriftstellerkarrieren im Arbeiter- und Bauernstaat, bis hin zum finalen Kollaps des zur Diktatur pervertierten Ostblocks, zum Ende der DDR. Die großen gesellschaftlichen Utopien sind gescheitert, das Individuum zwischen Geworfensein und Eigenverantwortung zerrieben.

 

Das Persönliche ist nie privat, sondern immer politisch. Felicitas Brucker, Hausregisseurin am Schauspielhaus, wird in der Bühnenfassung von Andreas Jungwirth nichts Geringeres als die Schicksalswege der menschlichen Existenz untersuchen.

 

Jenny Erpenbeck, geboren in Berlin. Zunächst Buchbinderlehre, anschließend Studium der Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Musiktheaterregie an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin. Inszenierte Musik- und Schauspielaufführungen u. a. am Berliner Ensemble, am Opernhaus Graz, am Staatstheater Linz und an der Deutschen Staatsoper Berlin. Literarisches Debüt 1999 mit Geschichte vom alten Kind. Seither weitere literarische Veröffentlichungen, zuletzt die Romane Heimsuchung (2008) und Aller Tage Abend (2012). Auszeichnungen: u.a. Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 2001, Heimito-von-Doderer-Preis (2009), Evangelischer Buchpreis für Aller Tage Abend sowie Joseph-Breitbach-Preis (beide 2013). Erpenbeck lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn als freischaffende Autorin in Berlin.

 

Regisseurin Felicitas Brucker, geboren 1974 in Stuttgart. Studierte Theaterwissenschaft, Literatur und Kommunikationswissenschaft in München und absolvierte ein Regiestudium am Goldsmiths College, London. Arbeiten: u.a. an den Münchner Kammerspielen, am Theater Freiburg, am schauspiel hannover, am Thalia Theater Hamburg, am Maxim Gorki Theater Berlin, am Deutschen Theater Berlin und am Nationaltheater Athen.

 

Inszenierungen: u.a. Engel von Anja Hilling (UA 2006, eingeladen zum Festival „Radikal jung“ in München), Urfaust von Johann Wolfgang von Goethe (2008), Amoklauf mein Kinderspiel von Thomas

Freyer (2008), Lilja 4-ever nach dem gleichnamigen Film von Lukas Moodysson (2008), Herztier nach

Hertha Müller (UA 2009), Geschlossene Gesellschaft von Jean-Paul Sartre (2009), Orestie nach Aischylos (2009) sowie Prinz Friedrich von Homburg von Heinrich von Kleist (2013, Theater Freiburg). 2007 erhielt sie den Förderungspreis für Darstellende Kunst des Kunstpreises Berlin. Seit der Spielzeit 2009/10 ist Felicitas Brucker Hausregisseurin am Schauspielhaus Wien und inszenierte hier hamlet ist tot. keine schwerkraft (UA 2007) und faust hat hunger und verschluckt sich aneiner grete (UA 2009) von Ewald Palmetshofer, Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung von Kevin Rittberger (UA 2010), Karaoke-Box von Iwan Wyrypajew (UA 2010) im Rahmen der Serie Die X Gebote, tier. man wird doch bitte unterschicht (ÖE 2010) und Körpergewicht. 17% (ÖEA 2011) von Ewald Palmetshofer, der Garten von Anja Hilling (UA 2011) sowie die in einer Doppelvorstellung präsentierten Stücke Gier von Sarah Kane und Illusionen von Iwan Wyrypajew (ÖEA 2013

 

Dramatisierung für das Schauspielhaus Wien von Andreas Jungwirth

 

Mit: Franziska Hackl, Steffen Höld, Katja Jung, Katharina Klar, Florian von Manteuffel, Johanna Tomek

 

Regie: Felicitas Brucker

Bühne: Michael Zerz

Kostüme: Marie Luise Lichtenthal

 

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