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Uraufführung: "Achtzehn Einhundertneun - Lichtenhagen" von Anne Rabe, Theater Chemnitz

Gewinnerstück des Kleist-Förderpreises 2008

Premiere: 22. November 2008, 20.00 Uhr, Schauspielhaus / Kleine Bühne

 

Ein junger Mann, der die DDR nur sieben Jahre lang erlebte, bevor es sie nicht mehr gab, und der seine Erinnerungen daran größtenteils über die Elterngeneration speist, will einen Dokumentarfilm über seine Familie in Rostock Lichtenhagen drehen, um sich damit an der Filmhochschule zu bewerben.

 

Was er inhaltlich darin erzählen will, weiß er selbst nicht genau, aber spannend soll es sein und authentisch. Ungewollt kommt er dabei einer schmerzhaften Vergangenheit auf die Spur, die er selbst bisher geleugnet hat. Dass sein Vater, der in der DDR als Spitzel „für eine gerechte Gesellschaft“ Menschen an die Staatssicherheit verraten hat, seit Jahren bereits im Westen lebt, ist nur eine seiner persönlichen Wunden, die plötzlich wieder Thema werden.

 

Äußerst differenziert entwirft das Stück familiäre Situationen, in denen nicht die Schuldfrage gestellt wird, sondern biografische Leerstellen einer jungen Nachwendegeneration zur Disposition stehen.

 

Die Autorin:

Anne Rabe wurde 1986 in Wismar geboren. Seit April 2006 studiert sie „Szenisches Schreiben“ an der Universität der Künste in Berlin und veröffentlicht seitdem kontinuierlich in verschiedenen Zeitschriften, u.a. in „entwürfe“ oder „[poet]mag“. Im März 2008 wurde ihr Text „Das erste Stück über Martin“ an der Schaubühne am Lehniner Platz im Rahmen der „Deutschlandsaga“ aufgeführt. In der aktuellen Spielzeit 2008/2009 ist sie Teilnehmerin des „Autorenlabors“ am Düsseldorfer Schauspielhaus.

 

Der Kleist-Förderpreis:

Der Kleist-Förderpreis ist einer der angesehensten Förderpreise für junge Dramatiker in Deutschland und wird jährlich von der Stadt Frankfurt/Oder gemeinsam mit dem Kleist-Forum und der Dramaturgischen Gesellschaft an Autorinnen und Autoren vergeben, die nicht älter als 35 Jahre sind.

Alle prämierten Stücke erlebten zahlreiche Inszenierungen im deutschsprachigen Raum. Damit hat sich der Kleist-Förderpreis als richtungsweisend für die Entwicklung neuer Dramatik und als Wegbereiter vieler, mittlerweile renommierter Theaterautoren erwiesen, wie zum Beispiel Marius von Mayenburg oder Ulrike Syha, deren neues Stück „Privatleben“ seine Uraufführung Anfang Oktober am Theater Chemnitz erlebte.

Verbunden mit der Prämierung sind ein Preisgeld und eine Uraufführungsoption. Seit der Schließung des Kleist-Theaters in Frankfurt/Oder, das bis zum Jahr 2000 die mit dem Preis verbundene Uraufführungsgarantie übernahm, können sich Theater bei der Dramaturgischen Gesellschaft Berlin für die Uraufführung bewerben. Das Theater Chemnitz hat diese Chance wahrgenommen und wurde im Rahmen der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft im Januar 2008 mit großer Stimmenmehrheit zur Uraufführungsbühne für das Gewinnerstück des Kleist-Förderpreises 2008 gewählt.

 

Aus der Laudatio:

„Anne Rabe schafft es, die Vergangenheit der Familie in die Gegenwart zu holen, mit einem einfachen Trick: Fast das gesamte Stück über filmt Michael seine Familie und sich, und fast das gesamte Stück über variiert Anne Rabe die Situation des Gefilmt-Werdens der Figuren und die damit verbundene Unmöglichkeit, authentisch zu wirken. Wir sehen die Figuren durch den Filter ihres Anspruches, sich normal zu verhalten, und ihr Scheitern an diesem Anspruch macht die Figuren sichtbar. Rabe ist sich dieser Authentizität zweiter Ordnung bewusst, Michael ist das nicht. Aus diesem kleinen Wissensvorsprung, der dem Zuschauer zuteil wird, gewinnt das Stück seine Komik, seine Tragik, seinen Reiz.

 

Es ist verblüffend, wie viel Geschehen und Welt die Autorin sich in die vier Wände ihrer drei Figuren holt. Das simpel erscheinende Stück gewinnt seine Komplexität dadurch, dass auf in jeglicher Hinsicht kleinstem Raum erstaunlich viel erzählt wird - Geschehnisse in und außerhalb dieser vier Wände: Stasi, Mauerfall, Nachwendezeit bis hin zu den ausländerfeindlichen Ausschreitungen im August 1992 in dem Stadtteil von Rostock, der dem Stück seinen Namen gibt. Weil sich die Erzählungen hierbei auf das beschränken, was für die Figuren relevant ist bzw. was sie, wenn sie gefilmt werden, für relevant befinden, umgeht Rabe die Gefahr der Überfrachtung, die man sofort vermuten könnte, wenn man sich die Reihung ihrer Themen anschaut. Das Stück ist in diesem Sinne ein Beweis für die These, dass Stücke in erster Linie niemals von Themen, sondern von Menschen handeln sollten.

 

Es ist bereits angeklungen, woraus „Achtzehn Einhundertneun – Lichtenhagen“ seinen subtilen Humor bezieht: Aus der Differenz dessen, was die Figuren für authentisch betrachten, und wie sie tatsächlich sind. Bloßgestellt sind die Charaktere aber zu keiner Sekunde. Rabe hat ein durchaus distanziertes, aber jederzeit liebevolles Verhältnis zu ihren Figuren, und sie hat dieses Verhältnis offenbar zu jeder Figur. Das ist ungewöhnlich. Anne Rabe hat ihre Figuren, glaube ich, bereits scharf gezeichnet, als sie sie zu schreiben begann. Die Figuren sind daher, wie sie sind, und sie sind wie sie sind, von der ersten Sekunde, von der ersten Seite an.

 

Es wird in dem Stück weder gebrüllt noch körperliche Gewalt angewendet, und aus dieser Deeskalationsdramaturgie entwickelt sich eine innere Anspannung, die sich ohne Umwege von den Figuren auf die Zuschauer überträgt. Diese Anspannung ist letztlich eine Form von innerer Suspense. Auf diese Weise kommt das Stück auch ohne große Handlung aus – es bleibt innerlich spannend.“

(Auszug aus der Laudatio von David Gieselmann, gehalten am 14. Oktober 2008 zur Preisverleihung im Kleist-Forum Frankfurt/Oder)

 

 

 

 

 

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