Man nimmt heute an, dass die "Nullte" zumindest in ihrer endgültigen Version erst nach der ersten Symphonie entstanden ist - nämlich im Jahre 1869 in Wien. Dieses Werk besitzt alle Reize einer echten Bruckner-Symphonie, was Ivor Bolton mit dem Mozarteumorchester Salzburg auch minuziös herausarbeitet. Der pochende Rhythmus und das typische Ostinato der Bässe werden ergänzt durch Generalpausen, die die elektrisierende Spannung ganz entscheidend erhöhen. Ständige Wiederholungen steigern die dynamische Spannung in gewaltiger Weise. Dabei wird der logische kontrapunktische Aufbau der Komposition sehr gut herausgearbeitet.
Der erste Satz fesselt hier als machtvolles Allegro mit großen Bläserchorälen. Auch das lyrisch angelegte Andante wird von Choralthematik beherrscht. Pizzicati entführen den Hörer zuletzt in ein mysteriöses Pianissimo. Tiefe Spiritualität ist für diesen Satz kennzeichnend. Ins Monumentale gesteigert erscheint das Scherzo mit seinem originellen Ländler-Trio. Das Streicherthema des Finales wirkt hier besonders eindringlich und ausdrucksvoll. Die Blechbläser geben eindeutig und zielsicher die Richtung an. Dramatische Steigerungen werden facettenreich ausgekostet. Die Sturm-und-Drang-Effekte dieser Symphonie kommen gerade bei dieser ausgefeilten Interpretation nicht zu kurz. Nicht nur die "genetische" Themenaufstellung fällt dabei bedeutsam ins Gewicht, sondern vor allem auch das allmähliche Entstehen der Motive aus dem ungeordneten Nichts.
Das Drei-Themen-Prinzip deutet sich schon an, manifestiert sich zudem im reizvoll herausgearbeiteten Kontrast von Bläsern und Streichern. Die Themen stehen hier zwar in schroffer Dramatik einander gegenüber, doch entbehren sie nicht einer gewissen musikalischen Logik, die aber nicht straff wirkt. Prägnante Rhythmen stechen in besonderer Weise hervor. Draufgängerischer Trotz paart sich mit erregten Steigerungen, das Seitenthema im Kopfsatz wirkt schwärmerisch und sehnsüchtig.
"Bruckner war ein begabter Dilettant, der neunmal hintereinander dieselbe Symphonie geschrieben hat" - diese Meinung berühmter Musiker hat sich lange hartnäckig gehalten. Sie gilt wohl auch für diese bemerkenswerte "Nullte" Symphonie, deren formale Geschlossenheit und Reife in jedem Fall positiv auffällt. Der Dirigent Ivor Bolton legt auf die architektonische Präzision dieser ausgefeilten Harmonik großen Wert. Und das Mozarteumorchester Salzburg folgt seinen Intentionen sehr einfühlsam. Eine bemerkenswerte Verbundenheit von Dirigent und Orchester fällt dabei deutlich ins Gewicht, auch die klangliche Balance überrascht in positiver Weise. Flammende Aufschwünge ergänzen die Kerngedanken lyrischer Gruppen. Die "österreichische Gemütlichkeit" des Scherzo blitzt reizvoll hervor - auch die innige Sangbarkeit der einzelnen Themen besitzt hier großen Ausdrucksreichtum. Eine wilde Urwüchsigkeit beherrscht vor allem die Kopfsätze. Kraftvolle Entwicklungen und Steigerungen werden immer wieder klug aufgebaut. Die CD ist aufgrund ihrer klanglichen Intensität sehr zu empfehlen.