Logo of theaterkompass.de
HomeBeiträge
Festival „Um alles in der Welt – Lessingtage 2022“ im Thalia Theater HamburgFestival „Um alles in der Welt – Lessingtage 2022“ im Thalia Theater HamburgFestival „Um alles in...

Festival „Um alles in der Welt – Lessingtage 2022“ im Thalia Theater Hamburg

vom 20. Januar bis zum 6. Februar 2022

Es gibt wohl kein größeres Thema als das Leben selbst: als Gegenstand für ein Festival ist es so selbstverständlich wie unmöglich zugleich. Nichtsdestotrotz ist dies die erste Ausgabe der Lessingtage nach einer Zeit, in der sich unser Zusammenleben grundlegend verändert hat. Obwohl Menschen auf unterschiedlichste Art und Weise von der Pandemie betroffen waren und sind, standen überall Vereinzelung und Endlichkeit noch mehr als sonst im Vordergrund. Dem wollen wir etwas entgegensetzen: „Celebration of Life“ soll dem jetzt so wichtigen und drängendem Bedürfnis der Freude am Leben Ausdruck verleihen. Mit der Kunst das Leben feiern!

 

Copyright: Thalia Theater Hamburg

Den Auftakt macht ein Schwerpunkt zum politisch verfolgten, russischen „Gesamtkunstwerker“ Kirill Serebrennikov: Er inszeniert mit „Der schwarze Mönch“ eine Uraufführung eines Tschechow-Textes über die unbändige Sehnsucht des Menschen nach Leben. Gleich danach nimmt er uns in „Barocco“, einem Gastspiel des Gogol Center, mit auf einen furiosen Ritt durch Barockmusik und politschen Protest. Auch sein Kinofilm „Leto“ wird präsentiert.

Die Festivalrede hält Nino Haratischwili. In Tbilissi geboren, ist sie eine wahre Grenzgängerin und eine der eigenwilligsten, sprachmächtigsten und unerschrockendsten Stimmen der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur.

„Celebration of Life“ wird im englischsprachigen Raum auch oft als Bezeichnung für eine Trauerfeier verwendet. In diesem Sinne - auf die Fragilität des Lebens eingehend - werden  Produktionen gezeigt, in denen extreme Lebensentwürfe durchgespielt werden:

In „Das Leben des Vernon Subutex 1“ lässt Regisseur Thomas Ostermeier seinen Protagonisten Joachim Meyerhoff die Abgründe einer von sozialer Auflösung geprägten Gesellschaft schmerzhaft erleben.

Die schillernde dänische Künstlerin Madame Nielsen wiederum führt uns in „Die Welterlöserin“ unsere Widersprüche vor Augen, wenn es darum geht, die eigene Lebensweise zu hinterfragen: „Sie weiß, dass sie keine Lebensmittel kaufen soll, die mit Flugzeugen hierher transportiert werden müssen, aber, ach, Avocado soll ja sooo gesund sein, und gerade sie braucht ja gesundes Fett!“

Das Verhältnis von Leben und Umwelt thematisiert auch die vielfach preisgekrönte Aufführung des belgischen Performance-Kollektivs Ontroerend Goed – sie bebildern die Umkehrbarkeit der Dinge nach dem Point of No Return inhaltlich und formal: „Are we not drawn onward to new erA“ (lesen Sie es mal rückwärts!).

Oder es geht um den radikalen Wunsch, die Lebensform gleich komplett zu ändern: Ein Schaf möchte ein Mensch werden und erleidet in „The Sheep Song“ des flämischen Kollektivs FC Bergman in berührend poetischer Bildsprache alle Ohnmachtserfahrungen, die auch die menschliche Existenz durchziehen.

Die Endlichkeit des Lebens und was danach kommt, ist das Thema der „Langen Nacht der Weltreligionen“, die fragt: „Unsterblichkeit: Traum oder Albtraum?“.   

Einen Entwurf für das Leben nach der Pandemie macht Toshiki Okada in „Doughnuts“. Der japanische Ausnahmekünstler eröffnet das Festival mit seiner ersten Produktion am Thalia Theater in der Gaußstraße und präsentiert damit die zweite Hausproduktion eines internationalen Regisseurs zu Beginn des Festivals.

Ein vorsichtiges, freudiges „Wieder-Herantasten“ an das Leben auf der Bühne unternimmt auch die italienische Kompanie Deflorian/Tagliarini, die mit ihrer Hommage an Fellinis „Ginger e Fred“ erstmals in Deutschland präsent ist.

Am Ende des Festivals werden Sie entlassen mit einem hoffnungsvollen „Have a good day!“, der tausendfach formulierten Verabschiedung der Kassiererinnen, die noch vor einigen Monaten als systemrelevant beklatscht wurden. Die Banalität dieser Floskel, Titel der litauischen Musikperformance, wird zur Verdichtung eines der Gefühle, die bleiben, im – hoffentlich – letzten Aufbäumen der Pandemie.

Die Auswirkungen dieser jüngsten Katastrophe, die im Angesicht von Klimawandel und anderen Herausforderungen nur eine weitere unter vielen ist, werden uns noch lange begleiten. Wir können aber jetzt damit beginnen, die Strukturen, die unser Leben bestimmen, als (vor allem im guten Sinne) veränderbar wahrzunehmen. Oder um es mit Kirill Serebrennikov zu sagen:
„Every day is an empty stage“.

Das vollständige Programm der Lessingtagen 2022 und das Programmheft zum Durchblättern finden Sie unter

thalia-theater.de/lessingtage.
 

 

Weitere Informationen zu diesem Beitrag

Lesezeit für diesen Artikel: 20 Minuten



Herausgeber des Beitrags:

Kritiken

WUCHERN DER KLANGKONSTELLATIONEN -- "Jakob Lenz" von Wolfgang Rihm" bei Oehms Classics

Die Kammeroper "Jakob Lenz" in 13 Bildern von Wolfgang Rihm wirkt irgendwie zeitlos. Die historische Figur des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz aus der zweiten Hälfte des 18.…

Von: ALEXANDER WALTHER

STATISCHE KLÄNGE VOLLER SPANNUNG -- 1. Sinfoniekonzert des Staatsorchesters Stuttgart in der Liederhalle

Von traditioneller Musik beeinflusste zeitgenössische Werke waren im Beethovensaal der Liederhalle beim 1. Sinfoniekonzert des Staatsorchesters Stuttgart zu hören. Zunächst erklang "Largo und Allegro"…

Von: ALEXANDER WALTHER

DIE WELT NACH DEN MENSCHEN -- Musiktheater "Das irdische Leben" von Thom Luz und Ensemble im Kammertheater Stuttgart

In der Inszenierung von Thom Luz befinden sich hier vier Menschen in einem leeren und imaginären Raum, der von Stühlen übersät ist. Sie können ihm nicht mehr entkommen, sind scheinbar gefangen. "Das…

Von: ALEXANDER WALTHER

SPÄTROMANTISCHE AURA -- Wilhelm Grosz - neue CD bei Grand Piano

Der Wiener Pianist Gottlieb Wallisch entdeckt immer wieder verschollene Musik aus Archiven. Seine Album-Reihe "20th Century Foxtrots" ist inzwischen bei Vol. 6 angekommen und auch seine Aufnahme der…

Von: ALEXANDER WALTHER

EXPLOSIVE STIMMUNGSBILDER -- Donaueschinger Musiktage 2024 DONAUESCHINGEN

Wieder präsentierte Festivalleiterin Lydia Rilling viele Highlights. Der Karl-Sczuka-Preis 2024 geht an das Radiostück "Revenant" der kanadischen Soundkünstlerin Anna Friz. Es ist eine interessante…

Von: ALEXANDER WALTHER

Alle Kritiken anzeigen

folgen Sie uns auf

Theaterkompass

Der Theaterkompass ist eine Plattform für aktuelle Neuigkeiten aus den Schauspiel-, Opern- & Tanztheaterwelten in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Seit 2000 sorgen wir regelmäßig für News, Kritiken und theaterrelevante Beiträge.

Hintergrundbild der Seite
Top ↑