Den Auftakt macht ein Schwerpunkt zum politisch verfolgten, russischen „Gesamtkunstwerker“ Kirill Serebrennikov: Er inszeniert mit „Der schwarze Mönch“ eine Uraufführung eines Tschechow-Textes über die unbändige Sehnsucht des Menschen nach Leben. Gleich danach nimmt er uns in „Barocco“, einem Gastspiel des Gogol Center, mit auf einen furiosen Ritt durch Barockmusik und politschen Protest. Auch sein Kinofilm „Leto“ wird präsentiert.
Die Festivalrede hält Nino Haratischwili. In Tbilissi geboren, ist sie eine wahre Grenzgängerin und eine der eigenwilligsten, sprachmächtigsten und unerschrockendsten Stimmen der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur.
„Celebration of Life“ wird im englischsprachigen Raum auch oft als Bezeichnung für eine Trauerfeier verwendet. In diesem Sinne - auf die Fragilität des Lebens eingehend - werden Produktionen gezeigt, in denen extreme Lebensentwürfe durchgespielt werden:
In „Das Leben des Vernon Subutex 1“ lässt Regisseur Thomas Ostermeier seinen Protagonisten Joachim Meyerhoff die Abgründe einer von sozialer Auflösung geprägten Gesellschaft schmerzhaft erleben.
Die schillernde dänische Künstlerin Madame Nielsen wiederum führt uns in „Die Welterlöserin“ unsere Widersprüche vor Augen, wenn es darum geht, die eigene Lebensweise zu hinterfragen: „Sie weiß, dass sie keine Lebensmittel kaufen soll, die mit Flugzeugen hierher transportiert werden müssen, aber, ach, Avocado soll ja sooo gesund sein, und gerade sie braucht ja gesundes Fett!“
Das Verhältnis von Leben und Umwelt thematisiert auch die vielfach preisgekrönte Aufführung des belgischen Performance-Kollektivs Ontroerend Goed – sie bebildern die Umkehrbarkeit der Dinge nach dem Point of No Return inhaltlich und formal: „Are we not drawn onward to new erA“ (lesen Sie es mal rückwärts!).
Oder es geht um den radikalen Wunsch, die Lebensform gleich komplett zu ändern: Ein Schaf möchte ein Mensch werden und erleidet in „The Sheep Song“ des flämischen Kollektivs FC Bergman in berührend poetischer Bildsprache alle Ohnmachtserfahrungen, die auch die menschliche Existenz durchziehen.
Die Endlichkeit des Lebens und was danach kommt, ist das Thema der „Langen Nacht der Weltreligionen“, die fragt: „Unsterblichkeit: Traum oder Albtraum?“.
Einen Entwurf für das Leben nach der Pandemie macht Toshiki Okada in „Doughnuts“. Der japanische Ausnahmekünstler eröffnet das Festival mit seiner ersten Produktion am Thalia Theater in der Gaußstraße und präsentiert damit die zweite Hausproduktion eines internationalen Regisseurs zu Beginn des Festivals.
Ein vorsichtiges, freudiges „Wieder-Herantasten“ an das Leben auf der Bühne unternimmt auch die italienische Kompanie Deflorian/Tagliarini, die mit ihrer Hommage an Fellinis „Ginger e Fred“ erstmals in Deutschland präsent ist.
Am Ende des Festivals werden Sie entlassen mit einem hoffnungsvollen „Have a good day!“, der tausendfach formulierten Verabschiedung der Kassiererinnen, die noch vor einigen Monaten als systemrelevant beklatscht wurden. Die Banalität dieser Floskel, Titel der litauischen Musikperformance, wird zur Verdichtung eines der Gefühle, die bleiben, im – hoffentlich – letzten Aufbäumen der Pandemie.
Die Auswirkungen dieser jüngsten Katastrophe, die im Angesicht von Klimawandel und anderen Herausforderungen nur eine weitere unter vielen ist, werden uns noch lange begleiten. Wir können aber jetzt damit beginnen, die Strukturen, die unser Leben bestimmen, als (vor allem im guten Sinne) veränderbar wahrzunehmen. Oder um es mit Kirill Serebrennikov zu sagen:
„Every day is an empty stage“.
Das vollständige Programm der Lessingtagen 2022 und das Programmheft zum Durchblättern finden Sie unter
thalia-theater.de/lessingtage.