Ihr Gesicht ist von Narben entstellt, da sie es selbst zerkratzt hat. Der Apotheker Adam und der Chirurg Mannoury machen hämische Bemerkungen über Ninon. Auch die filmschnittartigen Sequenzen von Pendereckis Oper kommen in Simon Stones glutvoller Inszenerung aufgrund einer drehbaren Bühne von Bob Cousins und den passenden Kostümen von Mel Page überzeugend zur Geltung. Die Stimmung richtet sich im Laufe der Handlung immer mehr gegen den Priester, was die Inszenierung in drastischer Weise unterstreicht. Und die Seelenqualen der Nonne werden bis zur Schmerzgrenze ausgereizt.
Die Treppenaufgänge und -abgänge bevölkern viele Menschen, die einen packenden Chor bilden. Schließlich berichtet die Priorin Jeanne ihrem Beichtvater von einem nächtlichen Besuch des Teufels in Gestalt Grandiers in ihrer Zelle. Von jetzt an steigert sich die Hysterie zu einem immer bedrohlicher werdenden Höhepunkt, den die Inszenierung in elektrisierender Weise einfängt. Und Urbain Grandier scheut sich als Lebemann nicht, Philippe Trincant sogar im Beichtstuhl zu verführen.
Jeanne wird schließlich in ihrer Zelle von dem Exorzisten Barre in Gegenwart von Laubardemont, Mannoury und Mignon einem scharfen Verhör unterworfen. Sie spricht bald mit verstellter, bald mit natürlicher Stimme. Man versucht ihr mit aller Gewalt, den Teufel auszutreiben. Im dritten Akt erblickt man Grandier im Kerker, Jeanne in der Zelle - und der simultane Ablauf mehrerer Handlungen schichtet sich in gewaltiger Weise übereinander.
Die Prozession mit dem gefolterten Grandier ist ein weiterer Gipfelpunkt dieser Inszenierung von Simon Stone, er wird von der Menge gelyncht. Gleichzeitig wiederholt sich Jeannes Vision zu Anfang der Oper. Barre versucht als Exorzist vergeblich, Grandier zu einem Geständnis zu überreden. Er gibt Grandier den Friedenskuss und wird von der Menge als "Judas" beschimpft. Man schiebt den auf einer Bahre gefesselten Grandier zuletzt in den krematorienartigen Verbrennungsofen. Die Flammen lodern in gespenstischer Weise aus der geschlossenen Tür. Die Menge versinkt in Trance.
Die tiefenpsychologische Deutung dieser fieberhaft-elektrisierenden Aufführung könnte stellenweise sogar noch deutlicher herausgearbeitet werden. Unter der einfühlsamen Leitung von Vladimir Jurowski musiziert das Bayerische Staatsorchester mit dramatischem Nerv und präziser Offenlegung der komplizierten thematischen Verbindungslinien. Die Tontrauben und Cluster-Effekte der Partitur kommen ausgezeichnet zur Geltung. Die kühnen Klangmontagen gipfeln immer wieder in geradezu explosionsartigen Schlagzeugexzessen, die sich facettenreich vervielfältigen. Auch die deklamatorischen Linien der Singstimmen kommen hervorragend zum Vorschein.
Ausrine Stundyte als Jeanne kann das Profil ihrer schwierigen Rolle zwischen melismatischen und ariosen Episoden sehr gut verdeutlichen. Sie singt die Rolle insgesamt sogar noch emotionaler als Tatiana Troyanos in der Uraufführung unter Marek Janowski im Jahre 1969 in Hamburg. Und auch der im Orchestergraben singende Jordan Shanahan (Bariton) als Grandier zeigt in seiner Verkörperung dieser herausfordernden Rolle ein großes gesangliches Einfühlungsvermögen. Der Schauspieler Robert Dölle spricht die Partie des Grandier eindringlich auf der Bühne, denn der ursprünglich für die Rolle eingeplante Sänger Wolfgang Koch musste den Auftritt kurzfristig wegen einer Corona-Erkrankung absagen.
Der freie und rhythmisch gebundene Dialog zwischen den Protagonisten kommt auch bei den anderen Gesangspartien wirkungsvoll zur Geltung. Neben Ursula Hesse von den Steinen als Claire, Nadezhda Gulitskaya als Gabrielle und Lindsay Ammann als Louise beweisen außerdem Danae Kontora als Philippe und Nadezhda Karyazina als Ninon viel Gespür für feine stimmliche Klangwirkungen. Der Chor agiert hier immer wieder als wildes Geschrei und Gebrüll. Gelächter und gregorianische Chorgebete der Mönche verdichten sich zum unheimlichen Ritual. Die 30 Kurzszenen beleuchten das Geschehen auch musikalisch in bemerkenswerter Weise.
Den Vergleich mit der "Lukas-Passion" von Penderecki scheut Vladimir Jurowski als umsichtiger Dirigent hier keineswegs. Bei den Vierteltönen kommt es zu scharfen Einwürfen der Bläser, kühnen Glissandos, Klopf- und Pizzicato-Geräuschen sowie extrem hohen und tiefen Klängen, auf die die Singstimmen höchst sensibel reagieren. 42 Streicher, 32 Bläser, ein großes Schlagzeugarsenal, Orgel, Harmonium, Klavier, Harfe und elektrische Bassgitarre geben dem Werk ein imposantes Gepräge. Und die Sänger werden dabei glücklicherweise nicht zugedeckt. Dies gilt auch für den fulminanten Martin Winkler als Vater Barre, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Baron de Laubardemont, Andre Harris als Vater Rangier, Ulrich Rieß als Vater Mignon, Kevin Conners als Apotheker Adam sowie Jochen Kupfer als Mannoury.
Auch die übrigen Rollen sind mit Sean Michael Plumb als Prinz Henri de Conde, Martin Snell als Vater Ambrose, Christian Rieger als Bontemps und Steffen Recks als Gerichtsvorsteher überzeugend besetzt. Die Ursulinen Anna Avdalyan, Helene Böhme, Antje Lohse, Rebecca Suta, Mechtild Söffler, Mengting Wu, Camilla Saba Davies, Elisa de Toffol, Tina Drole, Albina Gitman, Laura Hilden und Ulrike Malotta sorgen für opulente Klangebenen, die die sphärenhaften Sequenzen bereichern. Der Bayerische Staatsopernchor und der Extrachor der Bayerischen Staatsoper bieten eine grandiose Gesamtleistung (Einstudierung: Stellario Fagone).
Es wird hier einmal mehr deutlich, dass dieses Werk auch eine große Chor-Oper ist. Einflüsse von Webern und Boulez zeigt Vladimir Jurowski dabei genauso präzis auf wie den Zauber der differenzierten Klangfarbenkunst ohne motivische Prozesse und harmonisch-akkordisches Denken. Große Ovationen, Jubel.