Juli Zeh verwebt Themen wie Gesundheitswahn, Biopolitik, Körperoptimierung und Werteverfall mit einem Gerichtsdrama zu einem spannenden Plot. Sie zeigt, wie sich unter dem Deckmantel der staatlichen Fürsorge ein totalitäres System entwickelt.
Irgendwann in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Menschheit befindet sich in einem Idealzustand - so scheint es. Die Bürger leben friedlich und im Einklang mit der Natur zusammen. Von Krankheit und Schmerzen sind sie verschont. Höchstes staatliches Ziel ist die Gesundheit des Einzelnen und daraus resultierend des gesamten Volkes. Darüber wacht die METHODE, eine Gesundheitsdiktatur, die über implantierte Chips unter der Haut die biologischen Daten der Leute kontrolliert und die Lebensweise vorgibt. Alle Bürger sind verpflichtet, sich durch Sport und gesunde Ernährung fit zu halten. Sogar die Partnerwahl darf einzig und allein unter dem Aspekt der Kompatibilität der Immunsysteme erfolgen. Alles, was der Gesundheit schadet, ist strengstens verboten. Negative Gefühle wie Trauer, die das Seelenleben destabilisieren, sind keine Privatsache und sollten schnellstens überwunden werden.
Mia Holl, eine junge Biologin vernachlässigt ihre Gesundheitspflichten und muss sich deshalb vor Gericht verantworten. Aus Schmerz um ihren toten Bruder macht sie keinen Sport und kann nicht mehr schlafen. Sie raucht Zigaretten, deren Duft sie an Moritz erinnern. Ihm wurde der Prozess gemacht, weil er eine junge Frau ermordet haben soll. Trotz seiner hartnäckigen, für Mia überzeugenden Unschuldsbeteuerungen wurde er verurteilt und nahm sich im Gefängnis das Leben. Er war ein Freidenker und damit quasi ein Staatsfeind. Sein Prozess wurde von einer Hetzkampagne in der Presse begleitet, die Heinrich Kramer, einer der Chefideologen der METHODE, vorangetrieben hat. Mia Holl macht Kramer für den Tod von Moritz verantwortlich.
Eigentlich ist Mia überzeugte Methodistin. Durch den Prozess und den Tod ihres Bruders aber beginnt sie zu zweifeln. Sie bittet um etwas Zeit für ihre Trauer, bevor sie wieder ihren staatsbürgerlichen Gesundheitspflichten nachkommt. Und sie überlegt: Könnte es nicht doch einen Fehler im System der für unfehlbar erklärten METHODE gegeben haben, der dazu geführt hat, dass ihr Bruder unschuldig verurteilt wurde? Mia Holls Fragen und ihre Abweichung vom gesunden Lebensweg werden immer weiter kriminalisiert. Sie wird zur Terroristin erklärt und wider Willen zur Galionsfigur für alle, die an der METHODE zweifeln.
Moderne Hexenverfolgung
Juli Zeh schrieb das Theaterstück »Corpus Delicti« für die Ruhrtriennale 2007. Die Autorin wollte eine moderne Hexenjagd beschreiben und von einer jungen Frau erzählen, die zur Ausgestoßenen und zur Staatsfeindin wird. Nicht von ungefähr tragen zwei Figuren Namen, die an historisch verbriefte Protagonisten aus der Zeit der Hexenverfolgung angelehnt sind: für Kramer, den Chefideologen der METHODE, ist Heinrich Kramer, der Verfasser des »Hexenhammers« (1486), Namensgeber. Für Mia Holl ist die als Hexe verfolgte Maria Holl, Gastwirtin aus Ulm, Namenspatronin. Hexenverfolgung ist aus Sicht von Juli Zeh nicht nur ein schrecklicher Vorgang aus alten Zeiten, sondern ein allgemeingültiges und zeitenübergreifendes Prinzip von Gesellschaftsbildung und Machterhalt. So spannend, dass er immer wieder neu erzählt wird.
Totalitäres System unterm Deckmantel staatlicher Fürsorge
2009 schuf Juli Zeh aus dem Schauspiel den Roman, um den Stoff vielen Menschen zugänglich zu machen. Die Autorin bezeichnet ihn als ihren ersten, ja sogar ihren einzigen politischen Roman. Juli Zeh sagt: »Corpus Delicti setzt sich mit vielen Themen auseinander, die für unsere heutige Gesellschaft wichtig sind. Welches Menschenbild pflegen wir, wie wollen wir zusammenleben, welche Werte sind wichtig für uns? Es ist dringend nötig, dass wir jenseits des schnellen Nachrichtengeschäfts in einen Diskurs eintreten, der uns die Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft vor Augen führt. Nicht als Apokalypse, sondern als Chance.«
Regie Nicole Buhr
Ausstattung Gesine Kuhn
Dramaturgie Sophie Püschel
Theaterpädagogik Christine Appelbaum
MIT
Nora Rebecca Wolff(Mia Holl)
Cosima Fischlein (Gast)(Moritz Holl / Richterin u.a.)
Andreas Schlegel (Kramer)
Rouven Klischies (Rosentreter u.a.)
Mo 20.06.2022 11:00 Uhr Restkarten
Di 21.06.2022 11:00 Uhr Restkarten
Di 28.06.2022 11:00 Uhr Ausverkauft
Do 30.06.2022 11:00 Uhr Restkarten
Mi 13.07.2022 19:00 Uhr Ausverkauft
Mi 19.10.2022 11:00 Uhr