Die Geschichte ist schnell erzählt: Im antiken Griechenland bekämpfen sich Athen und Sparta seit zwanzig Jahren im Peleponnesischen Krieg. Zermürbt von der Sinnlosigkeit dieser Kämpfe verschwören sich die Frauen beider Seiten mit Lysistrata an ihrer Spitze. Sie treten in einen Sexstreik, um von ihren Männern den Frieden zu erzwingen – mit Erfolg. Ende.
Rebekka Kricheldorf (Textbearbeitung) und Marie Bues (Regie) wagen sich an das schwierigste Genre des Theaters: die Komödie - und mit „Lysistrata“ an ein maßgebliches Stück dieses Genres. Der Fokus ist eng gesetzt, das Setting übersichtlich und schlüssig adaptiert: Die politische Schaltzentrale, im Originaltext die Akropolis in Athen, ist ein TV-Nachrichtenstudio mit Wänden aus Computertowern und Bildschirmen (Bühne: Blanka Rádóczy, Kostüm: Claudia Irro, Blanka Rádóczy). Die Frauen besetzen es und werfen die Propagandisten hinaus, um den medialen Lügen über militärische Siege und die Notwendigkeit des Krieges ein Ende zu bereiten. Das Studio wird ihr Hort, ihr Rückzugsraum, ihr Kraftfeld, aus dem heraus sie agieren, in dem sie sich versammeln, verschwören, verweigern. Völlig unerwartet trifft diese Bedingung für den Frieden – kein Sex, solange Krieg herrscht – die Männer: Aus Erfüllung wird Entzug, aus froher Erwartung wird bittere Enttäuschung, und ihre Potenz wird zu ihrer größten Schwäche. Aristophanes lässt die Frauen den Spieß umdrehen und ihre Handlungsohnmacht in Machtfülle verwandeln.
Der antike Text eignet sich erstklassig für eine Betrachtung über die zeitlosen Verstrickungen von Macht und Sex, über die politischen Dimensionen weiblicher Reize und Verführungskünste, über die Raffinessen der Frauen, über Sinnesbetörungen und Verwirrungen der Liebe, von denen Kunst, Literatur und Religion so häufig, so variantenreich und bildgewaltig erzählen. Sie sind heute so aktuell wie eh und je. Erst kürzlich scheiterte der CIA-Chef David Petraeus an einer erotischen Affäre mit seiner Biografin, weil das FBI in diesem außerehelichen Verhältnis ein potentielles Sicherheitsrisiko für die USA sah. Es ist also bis heute ein brisantes Thema, wenn der hochentwickelte Kopfmensch über seine archaischen Füße stolpert.
Kricheldorf und Bues nehmen leider das Angebot des Themas „Erotik“ nicht in seiner Tiefe und Vielschichtigkeit an. Stattdessen interpretieren sie es einseitig, setzten Sex mit Penetration gleich und kastrieren so den Kosmos der Erotik zwischen Männern und Frauen. Sie wenden Handlung und Figuren ins Alberne, geradezu Lächerliche. So erscheint die mutige Athener Anführerin Lysistrata (Monika Vivell) als strenge Gouvernante mit 1960er-Brille und zickiger Gestik. Ihre Mitverschwörerinnen treten als heterogene Gruppe aus biederen Hausfrauen und Pseudo-Popsternchen in 1980er Jahre-Ästhetik auf, mit gegürteten Hemden, auftoupiertem Haar und grell geschminkter Haut. Die Abgesandte Spartas, Lampito (Andrea Casabianchi), ist mit orange-roter Perücke und Silberuniform aus der Requisitenkiste ein Gegenpart wie aus einer Star-Wars-Besetzung. Sie bieten einen eher karnevalesken Anblick. Die Frauen brechen bei Beschimpfungen durch die Männer in Tränen aus, sie stöckeln auf Pumps herum, sie kramen in ihren Schminkutensilien, sie kreischen alte Parolen („Fighting for peace is like fucking for virginity!“). Damit verpufft die Energie der Schauspielerinnen, die sie, wie gelegentlich spürbar wird, in geballte Kraft umsetzen könnten. Ohne diese großen Streuverluste der Regie verlöre sich auch der derbe Witz des Textes nicht in Albernheit, sondern käme zu voller Geltung.
Was Aristophanes 411 n. Chr. als zeitgemäßes Geschehen von zeitloser Gültigkeit geschrieben hat, kocht Kricheldorf thematisch also einzig auf die Penetration ein. Bues lässt Myrrhine (Maria Goldmann) kindisch zappelnd Sex-Stellungen an ihrem Mann, dem Krieger Kinesias (Oliver Meskendahl) demonstrieren und dabei die Entbehrung der eigenen Lusterfüllung bejammern, wenn sie immer wieder von der Frauengemeinschaft zurückgepfiffen wird. Leider wirkt das nicht lustig oder ironisch, bestenfalls teilweise drollig. Somit bleibt von dieser eigentlich zentralen Szene lediglich der chaotische Eindruck. Tatsächlich komisch dagegen gelingt die Szene, in der Kinesias und der Bote des verfeindeten Spartas (Alexander Jaschick) sich in ihrer angestauten intimen Not so tatkräftig wie diskret aushelfen.
Interessant wird das Stück immer da, wo das Schrille entfällt, die Schauspieler das Tempo drosseln, das Diffuse konzentrieren und den Text sprechen lassen; wenn zum Beispiel das alte Rivalenpaar Chorführer und Chorführerin aufeinander trifft. Hier ist Johannes Bussler wunderbar knarzig, Catrin Flick ernst, empfindsam und lebenserfahren klug. Sie zeigen eine erwachsene Verwundbarkeit, aber auch Verbundenheit mit dem jeweils anderen Geschlecht, sie lassen durchschimmern, wie genau sie die Schwächen des Anderen kennen und dass sie deswegen einander ausgeliefert sind, dass ihr Widerstand gegeneinander mehr berechneter Wettkampf als Schicksal ist. Die Ironie der beiden, ihr Spiel mit dem Wissen um die eigene, menschliche Lächerlichkeit und ihre Preisgabe der eigenen Eitelkeiten ist in ihrer Tiefgründigkeit lustig.
Bues bisherige Inszenierungen, unter anderem in Osnabrück, wurden auch von der überregionalen Kritik durchaus anerkannt. Die Regisseurin wird zur Spielzeit 2013/2014 die Leitung des Theaters „Rampe“ in Stuttgart übernehmen. Für „Lysistrata“ setzt sie viel zu stark auf die plakative Darbietung. Sie lässt die jungen Schauspielerinnen ihre Brüste entblößen und, die Brustwarzen mit roten Tapekreuzen überklebt, sie dem Publikum präsentieren, was heute noch so provokativ anmutet wie das Kommune 1-Plakat von 1968. Wassergefüllte Luftballons in Form von
Penissen und Brüsten werden dem Publikum zweckfrei gereicht, eindeutige Hüftschwünge von stampfenden Schritten und Parolen überbetont, und immer wieder gibt es Sprechchöre der Frauen („Ficken! Ficken! Ficken!“).
Derb und explizit ist auch Aristophanes Text, läppisch ist er nicht. Das Vergnügen, das er bereiten könnte, wird dem Publikum zumeist vorenthalten, das Komische nicht ausgekostet. Kricheldorf und Bues vermitteln eher den Eindruck, sie selbst unterlägen einem auffälligen Phänomen unserer Zeit und Gesellschaft: Das Reden über Sex erfolgt in einer Sprachnorm, die zwar die Peinlichkeit, Sauberkeit und Körperfremdheit der 1950er Jahre („Beischlaf“, „Ehehygiene“, „Verkehr“) endgültig abgelegt, aber mit Erotik, Verführung und Sinnlichkeit ebenso wenig zu tun hat. Vielmehr zeigt sie eine „Pornographisierung“ im Verständnis von Sex an. Dass es ungewöhnlich ist, wenn Frauen eine solche bis dato männlich konnotierte Sprache verwenden, hat Charlotte Roche mit ihrem Buch „Feuchtgebiete“ bereits 2008 bewiesen, dessen Medienecho noch lange zu hören war. Sie betonte ihr Anliegen, sich aus weiblicher Sicht über Sex zu äußern, und dies in drastischer, gewaltvoller („knallen“, „nageln“) bis vulgär-pornographischer Wortwahl zu tun. Damit hat Roche auch den Anspruch erhoben, einen männlichen Sprachraum einzunehmen und als weiblich zu normalisieren.
Sie übernimmt mit dem Vokabular allerdings auch die Deutungshoheit der männlichen Sprachsphäre. Zeigt sich darin nun genuin weibliches Erleben und Begehren, das dem männlichen überraschend ähnlich ist, was bisher nur nie gesagt werden durfte? Ist es ein Frauen-Trick der tatsächlichen Bemächtigung über die eigene Sexualität durch sprachliche Mittel? Oder ist es reine Anpassung in einem Mantel scheinbarer Emanzipation auf sprachlich-sexuellem Gebiet, eine Mimikry im pornografischen Gesellschaftswandel?
In Bues Inszenierung zeigt sich diese Sprache als ein solches Symptom, nicht als eigene Deutung oder möglicher weiblicher Gegenentwurf. Insofern bleibt die Sprache zu einseitig, um Sinn zu erzeugen, zu schwach, um Tabus zu brechen, zu brav, um männliche Gebiete zu annektieren und zu gewöhnlich, um zu bewegen.
Anna Lammers
Premiere: Freitag, 8.2.2013
17 weitere Vorstellungen sind geplant, Termine auf: www.theater-osnabrueck.de