Die Armenviertel wachsen. Immer mehr Menschen leben in Not und Elend. Sie lungern herum, verwahrlosen, hungern, stehlen und betrügen. Die Reichen verbarrikadieren sich und hoffen, vom Volkszorn verschont zu bleiben.
Göttliche Erscheinungen haben da keinen Platz mehr. Aber das Überirdische wird in Bertolt Brechts grandiosem Parabelspiel „Der gute Mensch von Sezuan“ auch jämmerlich genug verkörpert. Drei ohnmächtige Witzfiguren sind Brechts Götter, die sich wundern, wie unwirtlich die Welt geworden ist. Sie interessieren sich nicht für die Hintergründe, sie lehnen jede Verantwortung ab. Wie erfolglose Handelsvertreter schleichen sie durchs Land und reduzieren ihr Anliegen zuletzt auf die weinerliche Suche nach einem einzigen guten Menschen, damit die Idee vom Homo sapiens als dem Ebenbild Gottes nicht grundsätzlich vor die Hunde geht.
Ganz nach biblischer Tradition werden sie beim gesellschaftlichen Abschaum, bei den „Zöllnern und Huren“ fündig. Die Prostituierte Shen Te, die ihren Körper aus Not verkauft, hat ihr gütiges Herz bewahrt und gibt den Göttern ein Nachtquartier. Deren Erleichterung kennt keine Grenzen, sie flehen das Mädchen am nächsten Morgen an, doch bitte gut zu bleiben und revanchieren sich mit Geld als Starthilfe für eine ehrbare Zukunft. Shen Te kauft den nächstbesten Tabakladen – und jetzt beginnt die Misere erst recht. Ein Klüngel elender, bedürftiger Existenzen heftet sich an ihre Fersen, immer gibt sie und verschuldet sich dabei. Der Geliebte will von ihr profitieren, der reiche Gönner will sie mit Beschlag belegen, ständig wird sie haftbar gemacht und ausgebeutet.
Sehr bald kommt sie allerdings auf die Idee, sich gelegentlich in ihren angeblichen „Vetter Shui Ta“ zu verwandeln, der hart und gnadenlos für Ordnung sorgt, wenn er auftritt. Der Erfolg bleibt nicht aus, am Ende schuften die Schmarotzer sogar als billige Arbeitskräfte in der neugegründeten Tabakfabrik des „Vetters“. Aber das Doppelspiel überfrachtet Shen Tes Kräfte. Hochschwanger, der Verzweiflung nah wird sie enttarnt und vor ein vertrotteltes Gericht gezerrt, das erkennbar aus den drei Göttern besteht. Shen Tes Verteidigung ist der ergreifende Höhepunkt des Stücks. „Euer einstiger Befehl, gut zu sein und doch zu leben, zerriss mich wie ein Blitz in zwei Hälften.“ Mit Entsetzen hat sie gelernt, dass sie zum Überleben den bösen Vetter genauso dringend braucht wie das gute Herz.
"Der gute Mensch von Sezuan" entstand am Beginn des Zweiten Weltkriegs, Brecht schrieb das Meisterwerk nach den Maßgaben seiner klassenkämpferischen Ideologie. Umso bestürzender ist die Aktualität im Jahr 2007, in unserer friedlichen, saturierten Industriegesellschaft, wo freilich immer mehr Menschen von Kind an ohne Perspektiven jenseits der Verelendungsgrenze vegetieren.
Auf dieser Erkenntnis fußt die Neusser Inszenierung von Andre Sebastian. Im pechschwarz-leeren Bühnenraum steht ein properweißes Kiosk-Büdchen auf Rädern, so sieht heute Shen Tes Laden aus, der im Lauf der Handlung immer frecher beschmutzt und geplündert wird. Sonst gibt es nur hastig heran- oder weggetragene Tische, Kunststoff-Stühle und am Ende einen Gitterzaun vor dem Schauplatz (Ausstattung Svea Koska).
Shen Tes gierige Belagerer sind hier fast alle jung. Schrill und ärmlich angezogen, unterfordert und über die Stränge schlagend, trotzig und bemitleidenswert, jugendliche Arbeitslose, wie sie in den Ballungszentren von heute zu finden sind. „Das neue Prekariat“ heißen sie in der Politikersprache. Der wilde Ansturm auf das ersehnte Zipfelchen Glück und Wohlstand, der qualvolle Kampf zwischen guten Vorhaben und zerstörerischen Gegenkräften: die Regieführung zeigt fast immer eine genau austarierte Mischung von Leidenschaft und Strategie. Zwei Standmikrofone links und rechts an der Rampe bilden eine Art akustischer Brecht-Gardine. Oft werden sie von einzelnen Spielern ergriffen, um Schwerpunktpassagen herauszuheben, zu verfremden, zu verstärken, zu singen, mit eigenen Texten zu aktualisieren. Dazu die schräge Musik von Paul Dessau in der Neubearbeitung von Markus Maria Jansen.
Im Zentrum des dramatischen Geschehens leuchtet die Sonne, nach der sich unwillkürlich alles richtet: Tini Prüfert als Shen Te. In jeder Nuance dieser facettenreichen Rolle ist sie glaubhaft. Sie rührt uns an mit ihrem Ernst, ihrer unbeirrbaren Wahrhaftigkeit, ihrem Liebreiz, ihrem Temperament, ihrer Hingabe, ihrer Anschmiegsamkeit, ihrer Härte, ihrem Gefühlsreichtum, ihrem Glücksbedürfnis und ihrem Schmerz. So beseelt sie den ganzen Abend und verleiht ihm eine wunderbare Tiefenschärfe. Sie ist eine echte Brecht-Spielerin, weil Fühlen und glasklares Mitdenken bei ihr immer Hand in Hand gehen. Großartig!
Auch alle anderen agieren temperamentvoll und präzise. Beeindruckend fand ich vor allem Hermann Große-Berg als ebenso generösen wie durchtriebenen Barbier, auch Hergard Engert als Die Frau/Frau Yang, Jochen Ganser als Polizist, Aurel von Arx als Arbeitslosen/ Bruder und Markus Maria Jansen als herrlich vergammelten Straßenmusikanten.
Premiere im Schauspielhaus Neuss am 7. September 2007, Vorstellungen auf dem laufenden Spielplan