In diesem Schattenakt wurde das Publikum Teil eines Opiumtraumes des Kriegers Solor. In seinem Rausch begegnete er seiner verstorbenen Geliebten Nikija, einer Tempeltänzerin. Diese war von einer eifersüchtigen Rivalin, seiner Verlobten, getötet worden. Dieser sphärenhafte Spitzentanz wurde vom Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Wolfgang Heinz einfühlsam begleitet. Es erschienen dabei plötzlich 24 Schatten vom Nikija, die immer wieder die gleichen Schritte vollführten. Arabeskenhafte Bewegungen ergaben sich so wie von selbst. Geisterhaft bewegten sich die Tänzer über die Bühne. Die geheimnisvolle Mondlandschaft erinnerte auch an Gustav Dores Illustration der "Göttlichen Komödie". Träume bestimmten die tänzerische Existenz. Die Welt der Literatur aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde hier beschworen - unerreichbare Liebe und übernatürliche Wesen eingeschlossen. Mackenzie Brown als Nikija sowie David Moore als Solor prägten das Geschehen zusammen mit der Kompanie aufgrund ihrer starken darstellerischen Präsenz.
"Blake Works I" in der Choreographie von William Forsythe hingegen rückte die Tanzwelt in unsere Gegenwart. Zu sieben Elektropop-Songs des britischen Singer-Songwriters James Blake kamen bei "I Need a Forest Fire" oder "Two Men Down" Coolness und Nonchalance auf die Bühne. Das Corps de ballet bewegte sich nicht in strengen Linien. Die Tänzerinnen markierten vielmehr immer wieder individuelle Punkte. So ergaben sich automatisch Grenzerweiterungen bis hin zu Uwe Scholz' suggestiver Choreographie von Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 7. Tänzerische Raffinessen und perfekte klassische Technik gingen hier nahtlos ineinander über. Bestimmte Motive oder Abschnitte wiederholten sich. In vier Sätzen ergänzten zwölf Paare das schlichte Bühnenbild. Tänzerinnen mit großem Spagat und hoch gezogenen Attitüden sorgten für eine starke visuelle Verdichtung der Atmosphäre. Inspiriert vom Gemälde "Beta Kappa" des Farbfeldkünstlers Morris Louis sah man auf der hellen Rückwand bunte Farben. Die Diagonalen fanden sich in den hellen Trikots der Tänzerinnen und auch in ihren Bewegungen.
Das Staatsorchester Stuttgart sorgte unter der impulsiven Leitung von Wolfgang Heinz für eine perfekte akustische Begleitung. Die beiden Themen der Einleitung im ersten Satz besaßen einen freudig beschwingten Grundton. Es hatte eine unterirdische Beziehung zu dem Trio-Thema des Scherzos. Die übermütigen rhythmischen Energien gipfelten im hüpfenden Hauptthema des Vivace. Heftige dynamische Kontraste wurden auch tänzerisch voll ausgelotet, beschwingte Rastlosigkeit setzte sich durch. Die Allegretto-Elegie des zweiten Satzes beschwor in den tiefen Streichern das Thema des Trauermarsches, der leidenschaftlich drohend in Variationen wiederkehrte. Die Tänzerinnen und Tänzer verstärkten dabei ihre Ausdrucksintensität mit erhabener Schreittechnik. Den Stimmungsumschwung des Presto im dritten Satz fing das Corps de ballet überzeugend ein. Kokett trippelte in den Tönen des Dreiklangs das Hauptthema daher, das die Tänzerinnen und Tänzer in einem Lichtkegel geradezu zelebrierten. Sie überspielten souverän die aufgesetzte Derbheit der Musik, alles besaß rasend-fliegende Leichtigkeit. Die fromme Feierlichkeit des Themas im Trio-Teil wirkte nicht aufgesetzt. Nach einer eingeblendeten Reminiszenz an das "Wallfahrtslied" leuchtete nochmals der Lichtkegel auf.
Richard Wagner bezeichnete das Finale einst als "Apotheose des Tanzes" - und mit grandiosem dionysischem Schwung gestaltete die Kompanie diesen atemberaubenden Abschluss. Das Kopfthema kreiste wie entfesselt um sich selbst. Und auch das kapriziös-tänzerische, fast böhmisch anmutende Motiv bewies in der Interpretation durch das Stuttgarter Ballett seine magnetische Strahlkraft. Die kunstreichen Finessen der Durchführung erfuhren eine konsequente tänzerische Umsetzung. Im Glanz von Hörnern und Trompeten und mit donnerndem Paukenwirbel folgte zuletzt die wahrhaft überschäumende "Apotheose der Lebensfreude".
Jubel, Begeisterung, tosender Schlussapplaus.