David Müller mimt sehr wandlungsfähig diesen sechzehnjährigen Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt wird, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hat. Als er in den Hafen von New York einfährt, erblickt er die Statue der Freiheitsgöttin im Sonnenlicht. In seiner Inszenierung zeigt Viktor Bodo höchst abwechslungsreiche Bilder, die sich von Szene zu Szene immer mehr verdichten und die Zuschauer fesseln. In New York wird Karl von einem reichen Onkel aufgenommen und später wieder verstoßen. Man sieht rasante Fahrten zwischen Wolkenkratzern und imaginären Straßen, die nicht enden wollen. Auch der für Kafka zum Alptraum gewordene Büroalltag wird kunstvoll persifliert, man erkennt viele Schreibmaschinen und Telefone, die Zeit scheint still zu stehen.
Karl Roßmann sitzt zunächst sogar im Publikum und kommt dann auf die Bühne: "Guten Morgen ohne Sorgen". Auch hier ist Kafka einer der großen Seher und Vorausseher des heutigen Weltzustands und der daraus entstehenden Problematik des Menschen, die sich immer mehr zuspitzt. Die Situation des Individuums unter der Herrschaft der Angst wird so auf die Spitze getrieben. Einmal taucht sogar ein gewisser Josef K. auf, den man ja von Kafkas Roman "Der Prozess" her kennt. Expressionismus, Surrealismus und Existenzialismus spielen im weiträumigen Bühnenbild von Zita Schnabel (Kostüme: Dora Pattantyus) durchaus eine Rolle. Auf der Suche nach Arbeit begegnet Roßmann zwei Landstreichern, die ihn ausnutzen. Der von Reinhard Mahlberg plastisch dargestellte Schiffsheizer beklagt sich bei ihm. Roßmann meint, dass ihm der Kapitän Recht geben sollte. Und der Heizer erwidert: "Du hast vollkommen Recht".
Roßmann findet unter der Obhut der Oberköchin des Hotels Occidental auch einen Job als Liftboy, wobei die Szene hier bald zu einer grotesken Revue ausartet. Der obskure Geschäftsmann Pollunder sorgt für Verwirrung: "Ist hier nicht alles prächtig? Doch!" Auch sein Kollege Green überrumpelt das Publikum mit ungeheurer Leibesfülle. Er landet ebenfalls als Diener bei der ehemaligen Sängerin Brunelda. Roßmann spielt sogar Chopin auf einem imaginären Klavier. Schließlich bekommt er eine Anstellung als Techniker beim Naturtheater von Oklahoma. Die eigentümlich spröde, trockene und glasklare Sprache von Kafkas Prosa sticht in den Dialogen dieser Inszenierung immer wieder deutlich hervor.
Die übrigen Schauspieler Therese Dörr, Teresa Annina Korfmacher, Simon Löcker (Kapitän), Reinhard Mahlberg, Marco Massafra als kurioser Englischlehrer, Marietta Meguid, Peer Oscar Musinowski (Schubal: "Fuck great America!"), Celina Rongen und Michael Stiller als gewiefter reicher Mafia-Onkel Jakob agieren mit großem Spielwitz und abgründiger Ironie in verschiedenen Rollen. Die Welt, die sich hier aufbaut, ist ungreifbar und unwirklich, beklemmend und verstörend: "Von deiner Familie kommt nichts Gutes". Zuletzt wird Brunelda abtransportiert und Robinson stirbt. Kafka erscheint auch hier als Mystiker und Gottsucher aus der metaphysischen Tradition des Judentums, den Thomas Mann sogar als "religiösen Humoristen" bezeichnete. Diese Feststellung trifft wohl vor allem auf "Amerika" zu.
Die letzte Szene mit Karls Anstellung im Naturtheater Oklahoma überzeugt am wenigsten. Da fällt auch die Musik von Klaus von Heydenaber ab. Die grausame Akribie, mit der Franz Kafka in seinen Texten so virtuos spielt, kommt hier eigentlich nur zu Beginn in der gelungenen Büro-Szene zur Geltung. Dass diese Prosadichtungen auch Träume sind, arbeitet Viktor Bodo jedoch manchmal heraus. Der Konflikt zwischen religiöser Veranlagung und skeptischem Intellekt eskaliert immer wieder. Dass in diesem Werk ein im bürgerlichen Sinne missratener Gymnasiast seine Heimat verlässt, in Not gerät und schließlich den rechten Weg findet, wird dem Zuschauer nicht deutlich genug gezeigt. Als Karl zuletzt den Direktor fragt, wann der nächste Zug fährt, sagt dieser nur lakonisch: "Keine Ahnung".
Es wird zu viel nur angedeutet. Das ist schade, denn so wird das Potenzial der Handlung verschenkt. Dass es letztendlich eine Reise ins Ungewisse ist, kommt zu kurz. Roßmann ist hier ein skurriler Märchenheld zwischen jungen Männern und jungen Mädchen, Polizisten und Vagabunden. Dennoch überzeugt diese Inszenierung bei einigen Szenen durch ihre Ironie und dramaturgische Dichte. Viel Schlussapplaus, auch "Bravo"-Rufe.