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MIDNIGHT, Performance von Lynsey Peisinger und Tilman Hecker, im RADIALSYSTEM V, Berlin

Premiere: 06.03.2016 um 17.00 Uhr. -----

Mit den Augen Mozart hören? Natürlich geht das! Denn für Tilman Hecker und Lynsey Peisinger liegen die ungebrochene Aktualität und Popularität des genialen Österreichers nicht in erster Linie in den apollinischen Melodien, sondern in der Struktur seiner Kompositionen selbst, denen ein hochdramatisches Timing innewohnt.

Aus dieser Annahme haben der Regisseur Hecker und die Choreografin/Performerin Peisinger eine installative Performance entwickelt, die in einer Kombination aus Klangkunst, Tanztheater und experimentellem Musiktheater das letzte Klavierkonzert, zwei Konzertarien und ein Lied von Wolfgang Amadeus Mozart visualisiert.

 

Dafür nähern sie sich den Partituren der Werke und nutzen deren kompositorische Strukturen als Grundlage für das Geschehen auf der Bühne. Mozarts Musik wird nicht zu hören, sondern zu sehen sein: Streicher, Bläser, Klavier und Gesang werden durch theatrale Elemente - Licht, Video und drei Performer - ersetzt. Die Melodien verschwinden, doch das kompositorische Timing bleibt.

 

Ein Video der zuvor in Aufsicht gefilmten Performance wird auf eine Leinwand projiziert, die die gleiche Größe wie die Bühnengrundfläche hat. Das Video läuft rückwärts, am Anfang der Performance ist ihr Ende und am Ende ihr Anfang zu sehen. Die Projektion erzeugt für das Publikum aus dem Spiel der Performer auf der realen Bühne eine zweite, frontale Sicht des Geschehens. Beide Spielebenen werden kontinuierlich unterbrochen: Das Licht auf der Bühne geht an und aus, das Video stoppt und läuft dann weiter. Innerhalb dieser optischen Struktur bewegen sich die Performer in der gleichen Unregelmäßigkeit; die Bewegung setzt fortwährend aus.

Der Transfer der musikalischen Stimmen in Bewegung – ihre Überschneidungen, wechselseitigen Verstärkungen, ihre Leerstellen, ihr Timing – gibt Auskunft über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des zeitgenössischen Subjekts und ermöglicht zugleich einen vollkommen neuen Blick auf Mozarts Kompositionen.

 

Aber MIDNIGHT ist keineswegs eine stumme Performance. Der Sounddesigner und Komponist Arno Kraehahn hat ein Soundscape geschaffen, das auf die strukturellen Vorgaben von Mozarts Partitur reagiert. Kraehahn belegte alle Bühnenaktionen – Video, Licht, Bewegung der Performer – mit einem spezifischen begleitenden Klang, der jeweils einen markanten Start- und Endpunkt hat. Z.B. werden die Bühnengeräusche (u.a. durch die Bewegungen der Tänzer) gemeinsam mit dem Video rückwärts abgespielt und mit denen des Live-Geschehens übereinandergelegt. So unterstützt der Klang die Wahrnehmung der strukturellen Vorgaben der Kompositionen.

 

MIDNIGHT ist ein Experiment, das die Strukturen moderner Subjektivität untersucht. Es arbeitet an der Erweiterung des Musikbegriffs und verfolgt damit ein Konzept in der Tradition von John Cage, der das eigentlich ästhetische und künstlerische Moment im Zuschauen und Zuhören selbst verortete. Es geht also nicht darum, einfach eine Konfiguration, eine Narration oder eine Behauptung auf die musikalische Struktur aufzusetzen, sondern einen ästhetischen Assoziationsraum zu schaffen, in dem die einzelnen Elemente der Performance immer wieder Anlass geben zu Prozessen der Sinnbildung.

 

Ganz unaufgeregt, fast beiläufig reflektiert MIDNIGHT dabei unsere zeitgenössische Erfahrung sozialer Medien, deren Reichweite durch die Allgegenwart von Smartphones exponentiell wuchert: Fortwährende Interaktion mit einer Kamera, dem eigenen Abbild und einem einesteils bekannten, teils völlig unbekannten Gegenüber. Selbstdarstellung, Außensicht und deren Kontrolle durch ein diffuses Drittes werden auf eine vollkommen neue Art und Weise vermischt. Die Schnelligkeit des Informationsaustausches, die Präsenz der fotografierten oder gefilmten eigenen Gegenwart und damit gleichzeitig schon Vergangenheit rekonfigurieren unsere Subjektivität und finden in MIDNIGHT eine Bühne.

 

MIDNIGHT verweist auf die formale und inhaltliche Versuchsanordnung über die Gleichzeitigkeit eines Stattfindens und eines Nichtstattfindens, als die Giorgio Agamben moderne Subjektivität beschreibt. Mitternacht meint astronomisch die Stunde, in der die Sonne am tiefsten unter dem Horizont steht, mythisch jene Stunde der Wieder- und Doppelgänger, der Erscheinungen, der herausgeforderten Wahrnehmung.

 

Regie: Tilman Hecker |

Choreografie/Performance: Lynsey Peisinger |

Komposition: Arno Kraehahn |

Performance: Ivan Cheng und Frank Willens |

Dramaturgie: Dag Lohde |

Kostüm: Julia von Leliwa | Licht: Scott Bolman |

Video: Thilo Schmidt |

Postproduktion: ARRI Mitte |

Abendspielleitung: Sophie Beck |

Produktionsleitung: ehrliche arbeit- freies Kulturbüro |

Kommunikation: k3 berlin

 

mit Lynsey Peisinger, Frank Willens, Ivan Cheng

 

Eine Koproduktion von Tilman Hecker, RADIALSYSTEM V und Mannheimer Mozartsommer.

Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds. Mit freundlicher Unterstützung des Watermill Centers New York.

 

Biografische Notizen

 

Tilman Hecker hatte 2009 mit "Mandys Baby", einem Musiktheater-Projekt mit Konzertarien von Mozart am Radialsytem V sein Regiedebüt. Weitere Inszenierungen waren u.a. "Narcissus und Echo" von Jay Schwartz am Salzburger Landestheater, John Cages "Songbooks" in der Werkstatt der Staatsoper im Schillertheater, Mozarts "La finta giardiniera" am Opernhaus Wuppertal, Cimaroas „Il matrimonio segreto“ am Theater Nordhausen und Aschaffenburg und zuletzt die Uraufführung "Querelle" von Birke J. Bertelsmeier an der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin. Im Juni 2016 inszeniert er am Staatstheater Karlsruhe Bellinis "I Capuleti e i Montecchi". Von 2004 bis 2011 arbeitete er mit Achim Freyer - u. a. als Associate Director für "Der Ring des Nibelungen" an der Los Angeles Opera - und mit Robert Wilson zusammen. Er war Stipendiat für das Atelier Opéra en création der A.E.M./Festival d’Aix-en-Provence, der Akademie der Künste Berlin und der Akademie Musiktheater heute der Stiftung Deutsche Bank.

 

Lynsey Peisinger ist Choreografin und Performance-Künstlerin. Performances 2015 waren u.a. „Underneath All This There is a River“, „Untitled“ und „Lynsey Peisinger’s Examples of Order and Disorder“, alle in Terra Comunla, SESC Pompeia, Sao Paulo; 2014 „In The Field“ für die Fondation Beyeler Basel und „512 Hours“, eine Performance Collaboration mit Marina Abramovic für die Serpentine Gallery London. Sie arbeitet eng mit Marina Abramovic zusammen, casted und bildet Performer aus und ist künstlerische Mitarbeiterin an der „Abramovic Method“ wie dem „MAI Prototype“. Weitere Zusammenarbeiten mit Abramovic 2015 waren künstlerische Mitarbeit für die Givenchy SS 2016 Show mit Riccardo Tisci in New York, sowie „15 Rooms“, Shanghai, kuratiert von Klaus Biesenbach und Hans Ulrich Obrist. Darüber hinaus war sie Regieassistentin von Robert Wilson in den Produktionen „Zinnias: The Life of Clementine Hunter“ und „The Old Woman“ mit Mikhail Baryshnikov und Willem Dafoe. Weitere Aufführungen 2012 u.a. bei Robert Wilson's 2nd Annual Berlin Benefit und beim Hyères Fashion and Photography Festival. Peisinger erhielt ihren Master of Fine Arts in Choreografie am Dance Conservatory, Purchase College.

 

Weitere Vorstellungen:

06.03.2016, 20.00 Uhr

07.03.2016, 20.00 Uhr

 

Ort:

RADIALSYSTEM V

Holzmarktstr. 33

10243 Berlin

 

Tickets:

18 Euro

14 Euro ermäßigt

 

Reservierung:

www.radialsystem.de

oder

030 288 788 588

oder

www.reservix.de

und an allen bekannten

Vorverkaufsstellen

 

Außerdem:

MIDNIGHT beim Mannheimer Mozartsommer

am 23.07.2016 im

Nationaltheater Mannheim

 

 

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