Doch Medea, deren Wurzeln längst zu Fesseln zu verhärten drohen, ist bei all ihrer klugen Voraussicht auch eine gefühlsbetonte junge Frau, die vom Glück der großen Liebe träumt. Und die sich, als der Fremde, der Grieche Jason, vor ihr steht, verliebt, alles riskiert und sich hineinstürzt in eine Amour Fou. Mit seinen Argonauten ist Jason aus Griechenland gekommen, um von den Kolchern, den "Barbaren", das goldene Vlies einzufordern. In der Fremde will er Heldenhaftes vollbringen - halb Abenteurer halb kalkulierender Karrierist. Medea besorgt Jason das Vlies und macht so den feindlichen Eindringling mit List und Zauberkunst zu dem Helden, der er sein will. Für das Versprechen mit ihr zu fliehen, sie in seiner Heimat zu heiraten und ein gemeinsames Leben zu führen, lässt sie alles Vertraute radikal hinter sich, kappt die familiären Bindungen und nimmt sogar den grausamen Brudermord in Kauf.
Der zweite Teil "In der Fremde / Zuhause" spielt Jahre später. Nun ist Medea fremd in Jasons Heimatland und alles ist anders als erhofft: Statt in den Palast hat der Gatte Medea ins Reihenhaus geführt. Die Liebe hat den hohen Erwartungen nicht standgehalten. Zwei Söhne sind inzwischen geboren, aber der Alltag ist trist, der männliche Held beruflich nicht wirklich erfolgreich. Er sucht sein Glück in den Armen einer Anderen, Medea will er verlassen. Sie will nicht gehen, denn es gibt für sie kein zurück in die alte Heimat. Medea kämpft nun mit der gleichen Entschlossenheit gegen Jason, mit der sie ihn einst zum Helden gemacht hat. Dem erbarmungslos konsequenten Versuch, den Alptraum zu beenden, fallen schließlich die Kinder zum Opfer - werden zur traurigen letzten Waffe im Ehekrieg. Aber anders als im Mythos, getötet von den Eltern, die sich in der Schuld wieder nahe sind.
Tom Lanoye schafft den Sprung in die Gegenwart, ohne die archaische Wucht der antiken Vorlage preiszugeben. Die Konfrontation zwischen den beiden Kulturen legt er in die Sprache: Wenn die "Barbaren" in Versen und die Griechen in flapsiger Prosa sprechen, zeigt das die Ambivalenz unserer Auffassung von Zivilisation.
Der flämische Autor Tom Lanoye ist bereits mit SCHLACHTEN!, seiner spektakulären Bearbeitung von Shakespeares Rosenkriegs-Dramen, die in der 11-stündigen Inszenierung von Luk Perceval 2001 auch in der Jutierhalle zu sehen war, international bekannt geworden. Für MAMMA MEDEA greift er auf die antike Medea-Tragödie von Euripides und das Zorn-Epos des griechischen Dichters Apollonios von Rhodos zurück.
Deutsch von Rainer Kersten
Es inszeniert Stephan Kimmig, der als Regisseur u.a. am Hamburger Thalia Theater und am Wiener Burgtheater arbeitet. An den Kammerspielen brachte er zuletzt Ödön von Horváths GLAUBE LIEBE HOFFNUNG heraus.
Mit: Caroline Ebner, Sandra Hüller, Simon Kirsch, Hans Kremer, Lena Lauzemis, Lasse Myhr, Steven Scharf, Jonas Schmid, Sebastian Weber