Logo of theaterkompass.de
HomeBeiträge
Lukas Bärfuss und die Abgründe der EinigkeitLukas Bärfuss und die Abgründe der EinigkeitLukas Bärfuss und die...

Lukas Bärfuss und die Abgründe der Einigkeit

von Silvia Schäfer

Lukas Bärfuss, 1971 in Thun im Kanton Bern geboren, zählt zu den vielversprechendsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Seine Dramen wurden mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt er 2005 den Dramatikerpreis (und den Publikumspreis) der Mülheimer Theatertage für sein Stück „Der Bus“.

 

Lukas Bärfuss arbeitet seit 1997 als freier Schriftsteller in Zürich. Seine erste Arbeit fürs Theater sollte eine Strichfassung des „Ödipus“ von Sophokles werden. Stattdessen entwickelte der Autor kurzerhand eine neue Version, die 1998 uraufgeführt wurde.

Seitdem folgt Stück auf Stück - mal eine Uraufführung in der Schweiz, mal eine in Deutschland.

Für das Schauspielhaus Bochum entstanden „Die Reise von Klaus und Edith durch den Schacht zum Mittelpunkt der Erde“ (2000) und „Vier Bilder der Liebe“ (2002). Für das Theater in Basel verfasste er die Groteske „Meienbergs Tod“ (2001) und die „Sexuellen Neurosen unserer Eltern“ (2003). 2005 wurden gleich zwei Stücke uraufgeführt: „Der Bus“ im Hamburger Thalia Theater und „Alices Reise in die Schweiz“ im Theater Basel. Mit der Novelle „Die toten Männer“ legte der Schweizer 2002 sein Debüt als Prosaschriftsteller vor.

 

Mag sein, dass die Herkunft Bärfuss als Autor beeinflusst hat. Sein Verhältnis zur Schweiz ist ambivalent. Auf der einen Seite bilden die Modellhaftigkeit und Überschaubarkeit des kleinen Staates einen Glücksfall für sein Schreiben, auf der anderen Seite reibt er sich an der (geistigen) Enge des Landes, in dem alles Sinnliche so abwesend zu sein scheint.

Insbesondere das Stück „Alices Reise in die Schweiz“ ist eng mit der Heimat verbunden. Es ist ein Stück über Sterbehilfe und die Schweizer Regelung des Problems. Auslöser war eine Zeitungsnotiz über die Weigerung der Stadt Zürich, die nicht unerheblichen Kosten zu übernehmen, die hier jährlich von Sterbetouristen verursacht werden. Es ist eine für das Land typische Auseinandersetzung, in der finanzielle oder ästhetische Fragen im Vordergrund stehen und nicht der Gegenstand selbst.

Bärfuss interessiert nicht nur als Dramatiker die moralische Komponente, das Dilemma des auf Schweizer Art übereinstimmend geregelten Themas. Was ist mit dem Lebensrecht chronisch Kranker, wenn immer leichter Menschen in vergleichbaren Situationen legal den Freitod wählen dürfen? Wenn Leid der menschlichen Würde widerspricht, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass nur Starke und Gesunde dieselbe behalten?

 

Immer wieder spielt der phyische und psychische Tod in den Arbeiten des Schweizers eine Rolle. Seine Stoffe sind ebenso janusköpfig wie ihre dichterischen Umsetzungen, die tragisch und komisch, pathetisch und banal, bedrückend und erleichternd zugleich sind.

 

Lukas Bärfuss nimmt kein Blatt vor den Mund. Seine Themen sind populär. Sie liegen am Puls der Zeit und reißen standardisierte Betrachtungsweisen auf. Bärfuss sagt über sich selbst: „Es interessiert mich immer das, was allgemein bekannt zu sein scheint. Mich interessieren Konsense, Übereinkünfte, alles Dinge, die klar zu sein scheinen.“

So beschreibt er in dem Stück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ die moralischen Verrenkungen der aufgeklärten Elterngeneration im Umgang mit der sexuellen Selbstbestimmung behinderterer Menschen und deckt nebenbei faschistoide Vorstellungen vom „lebenswerten“ Leben in unserer toleranzwütigen Welt auf. „Der Bus“ handelt von Glauben und Glaubensfähigkeit, vom Spiritualismus in einer postatheistischen Zeit und von den Bedrängungen der permanenten Verständnisheuchelei durch die gnadenlose Konsequenz, die Religion fordert.

 

Bärfuss erkennt die Widersprüche an. Er führt seine Themen nie zu Ende. Seine Dramen sind Resonanzböden für ungestellte Fragen. Die Antworten bleiben offen.

 

Zu empfehlen:

Lukas Bärfuss: Meienbergs Tod. Die sexuellen Neurosen unserer Eltern. Der Bus.

Lukas Bärfuss: Die toten Männer. Novelle.

Lukas Bärfuss: Jemand schreit in unseren Rosen. 1 Audio-CD.

Weitere Informationen zu diesem Beitrag

Lesezeit für diesen Artikel: 18 Minuten



Herausgeber des Beitrags:

Kritiken

GLUT UND FEUER -- Jubiläumskonzert 40 Jahre Kammersinfonie im Kronenzentrum BIETIGHEIM-BISSINGEN

1984 wurde dieser für die Region so bedeutende Klangkörper von Peter Wallinger gegründet. Unter der inspirierenden Leitung von Peter Wallinger (der unter anderem bei Sergiu Celibidache studierte)…

Von: ALEXANDER WALTHER

EINE FAST HYPNOTISCHE STIMMUNG -- Gastspiel "Familie" von Milo Rau mit dem NT Gent im Schauspielhaus STUTTGART

Dieses Stück erzielte bei Kritikern zum einen große Zustimmung, zum anderen schroffe Ablehnung. Vor allem die nihilistischen Tendenzen wurden getadelt. Der Schweizer Milo Rau hat hier das beklemmende…

Von: ALEXANDER WALTHER

MIT LEIDENSCHAFTLICHEM ÜBERSCHWANG -- Richard Wagners "Walküre" mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra konzertant im Festspielhaus/BADEN-BADEN

Wagner hatte die Komposition der "Walküre" im Sommer 1854 begonnen, noch vor der Vollendung der "Rheingold"-Partitur. Der Dirigent Yannick Nezet-Seguin begreift mit dem vorzüglich disponierten…

Von: ALEXANDER WALTHER

AUFSTAND DER UNTERDRÜCKTEN -- "Farm der Tiere von George Orwell im Schauspielhaus Stuttgart

"Kein Tier in England ist frei!" So lautet das seltsame Motto von George Orwells "Farm der Tiere", die wie "1984" auch irgendwie eine seltsame Zukunftsvision ist. Die Tiere wie Hunde, Hühner, Schafe…

Von: ALEXANDER WALTHER

VERWIRRUNG BIS ZUM SCHLUSS -- "Es war einmal ein Mord" von Giovanni Gagliano im Theater Atelier Stuttgart

Eine geschickt verwobene und raffinierte Handlung präsentiert Vladislav Grakovski in seiner Inszenierung des Kriminalstücks "Es war einmal ein Mord" von Giovanni Gagliano. Spannung, Humor und…

Von: ALEXANDER WALTHER

Alle Kritiken anzeigen

folgen Sie uns auf

Theaterkompass

Der Theaterkompass ist eine Plattform für aktuelle Neuigkeiten aus den Schauspiel-, Opern- & Tanztheaterwelten in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Seit 2000 sorgen wir regelmäßig für News, Kritiken und theaterrelevante Beiträge.

Hintergrundbild der Seite
Top ↑