Eine Geschichte in den Lessingtagen geht so: Man will nicht der sein, der man ist, sondern ein anderer! Dem eigenen Ich entkommen (oder dem, was die Anderen dafür halten). Die Fantasie von der eigenen Größe, Stärke, Schönheit, Grandiosität – der Drang, nicht immer nur der ewige Zweite zu sein – ist ein erheblicher Motor für Fortschritt und Veränderung. Ihre Kehrseite: Zerstörung, Krieg und Gewalt, nicht nur in der Antike (wie bei „Ajax und der Schwan der Scham“, in der Regie von Christopher Rüping).
Zwei andere Geschichten gehen so: Ich will nicht an dem Ort sein, an dem ich bin. Oder: Ich will nicht in der Zeit leben, in der ich lebe, lieber gestern als jetzt, lieber morgen als jetzt. Wunschorte – „Another life“ kann sich überall ereignen, nur nicht dort, wo man ist. Immer wieder sind es daher Wunschorte, die Menschen bewegen: die Heimat oder ihr Verlust, das Paradies, der Himmel, der Aufbruch oder die Flucht in die Fremde, Orte der Verheißung einer besseren Welt, die es – parallel – doch vielleicht irgendwo auf der Welt geben könnte, nein: müsste.
Was bewegt einen jungen Mann, der als Migrant in Griechenland lebt, immer und immer wieder in die Taverne seiner albanischen Eltern zurückzukehren („Taverna Miresia“)? Was treibt einen Menschen um, der, an seiner russischen Heimat verzweifelnd, im deutschen Exil lebt und tanzt („Die Trauer des Dämons“)? Wie geht es jungen Mädchen in Afghanistan, die vor dem Patriarchat nicht fliehen können und gezwungen sind, sich eine fantasievolle Zuflucht zu konstruieren, die sich entschließen, ihr Geschlecht zu tauschen, um als Jungen auftreten zu können („Underground Girls“)? Oder: Wie verzweifelt und zugleich von einem unbedingten Lebenswillen angefeuert müssen Menschen sein, die im Iran Marathon trainieren, um nachts knapp 40 Kilometer durch den Eurotunnel zu laufen, in der Hoffnung, in Großbritannien anzukommen, bevor der erste Zug sie zermalmt („Blind Runner“)? All dies sind Erzählungen höchster existentieller Not, die über sich selbst hinausweisen, weil sie davon berichten, mit welcher Hoffnung und Fantasie Menschen immer und immer wieder versuchen, ihr scheinbar unveränderbares Schicksal hinter sich zu lassen. Eine besonders schmerzhafte, ja, sprachlos machende Geschichte ist dokumentarisch: Es sind die Gespräche und Briefe zwischen Alexej und Julija Nawalny. Wie ist es möglich, trotz schier unermesslichen Leids, die Hoffnung aufrechtzuerhalten und die Kraft zu bewahren, sich ein Leben außerhalb der Qual vorstellen zu können („Hallo, hier spricht Nawalny“)?
Wunschzeiten – Man will lieber in der Heimat des Gestern leben oder in der Morgenröte der Zukunft, der Utopie einer gerechteren Gesellschaft. Nicht jetzt, sondern im Paradies oder Himmel oder in anderen Fantasien von einer wünschenswerten, märchenhaften Zeit. Hauptsache, es ist und wird anders, als es ist, und man entkommt der Welt, wie sie ist. „Fantasies of another life“ setzen Energie frei. Gleich zu Beginn der Lessingtage erinnern die Künstler von FC Bergman mit „Works and Days“ daran, dass die Menschen früher ihr Leben an den vier Jahreszeiten ausgerichtet haben – Vivaldi als Melodie einer längst verflossenen „Wunschzeit“, die vielleicht viel weniger Wunschzeit war, als wir heute glauben. Zwei „Zauberkomödien“ verführen in Wunschzeiten und Wunschorte gleichermaßen: In „Akıns Traum“ gelingt es dem migrantischen Alter Ego des Autors, mit dem E-Roller durch Gelsenkirchen zu fahren und von dort, quasi mit dem fliegenden Teppich, eine fantastische Zeitreise ins längst vergangene, aber immer noch faszinierende osmanische Reich zu machen. In Majakowskis „Die Wanze“ dann das Gegenteil: Hier wacht ein Durchschnittsmensch namens Bratfisch nach einer Zeitreise in einer menschengemachten Gesellschaftsutopie auf. Sie hat die Welt in eine perfekte Maschine verwandelt. Träume und Fantasien haben hier keinen Platz mehr, sie sind (scheinbar) erfüllt. Eine wunschlose Welt, die mit dem antiquierten Bratfisch samt einer Wanze nichts anfangen kann und beide im Zoo ausstellt. Dass die schier unbegrenzte Gestaltungsfähigkeit unserer Gattung immer wieder erschreckende Züge annehmen kann, wissen wir spätestens seit der drohenden Klimakatastrophe. Da, wo Elfriede Jelinek lakonisch von „Asche“ spricht, erzählt Akram Khan, Tänzer und Choreograph, in seiner Version des „Dschungelbuchs“ von Mowgli, bei ihm ein Mädchen, das vor der Klimakatastrophe flieht und es, wie durch ein Wunder, in eine andere, vielleicht rettende Welt schafft, nämlich die des Dschungels.
Mit dieser familienfreundlichen Aufführung sowie dem britischen Theateravantgardisten Tim Etchells enden die 16. Lessingtage. Der Titel seiner Inszenierung ist: „How goes the world?“ Ja, how? 16 Jahre lang haben wir versucht, dies bei den Lessingtagen zu ergründen, und gemeinsam mit uns über 200.000 Zuschauer – eine Suchbewegung, die immer und immer weitergehen wird… das ist ja das Schöne. Und dennoch gibts immer auch eine Endlichkeit: die Lessingtage 2025 sind die letzten in dieser Form.
Joachim Lux
Das Programm 2025
15 Jan
Open-Air-Kunstaktion von und mit Schülerinnen und Schülern vom 13.1.25 bis 02.02.25
WIR und die Zukunft
Treffpunkt: Gerhart-Hauptmann-Platz beim Thalia Theater
12:00 Uhr / Eintritt frei
15 Jan
Uraufführung
Ajax und der Schwan der Scham
von Christopher Rüping und Ensemble nach Sophokles
Regie: Christopher Rüping
19:00 Uhr / Premierenabo
16 Jan
Ajax und der Schwan der Scham
von Christopher Rüping und Ensemble nach Sophokles
Regie: Christopher Rüping
19:00 Uhr / Im Anschluss: Gespräch
Alles, was wir nicht erinnern
nach dem Buch von Christiane Hoffmann
Regie: Gernot Grünewald
20:00 Uhr / Im Anschluss: Gespräch
17 Jan
Asche
Regie: Jette Steckel
20:00 Uhr
18 Jan
Stadtführung 1. Kein Kartenverkauf vor Ort
1. Solidarität, Utopien und Fluchten
Treffp.:Ecke Stadthausbrücke/Neuer Wall
11:00 - 13:00 Uhr
18 Jan
Stadtführung 2. Kein Kartenverkauf vor Ort
2. Ermunterungen z.Vergnügen d.Gemüts
Treffp.:Gänsemarkt vor dem Lessing-Denkmal
14:00 - 16:00 Uhr
18 Jan
Gastspiel. Ohne Worte
Works and Days
Toneelhuis, Belgien
20:00 - 21:10 Uhr
19 Jan
Eröffnung. In deutscher Sprache
"Freund, komm mit mir aufs Meer"
Eröffnungsrede mit Antje Boetius
11:00 - 14:30 Uhr
19 Jan
Stadtführung 3. Kein Kartenverkauf vor Ort
3.Lessing, Struensee u. d. Aufklärung in Altona
Treffp.:Ecke Königstr./ Holstenstr.
14:00 - 16:00 Uhr
19 Jan
Gastspiel. Ohne Worte
Works and Days
Toneelhuis, Belgien
19:00 - 20:10 Uhr / Im Anschluss: Gespräch
19 Jan
Taverna Miresia-Mario,Bella,Anastasia
Epidaurus Festival´23/Theatro sti Sala, Griechenland
20:00 - 21:15 Uhr
20 Jan
Gastspiel. Deutschland-Premiere. Ohne Worte
Taverna Miresia-Mario,Bella,Anastasia
Epidaurus Festival´23/Theatro sti Sala, Griechenland
20:00 - 21:15 Uhr / Im Anschluss: Gespräch
20 Jan
Gespräch. In deutscher Sprache
Blue Skies?Systemsturz statt Apokalypse
20:00 - 22:00 Uhr
21 Jan
Comedy. In deutscher Sprache
Talk unterm Dach
#12 Back to the roots
20:00 Uhr
21 Jan
Asche
Regie: Jette Steckel
20:00 Uhr / € 28/11
22 Jan
Stadtführung 1. Kein Kartenverkauf vor Ort
1. Solidarität, Utopien und Fluchten
Treffp.:Ecke Stadthausbrücke/Neuer Wall
11:00 - 13:00 Uhr
22 Jan
Thalia jung&mehr
WIR oder den Krisen zum Trotz
oder Fantasien für ein anderes Leben
11:30 Uhr / Eintritt frei
22 Jan
Gastspiel. In chinesischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Die Wanze
Meng Theatre Studio, China
20:00 - 22:00 Uhr
23 Jan
Gastspiel. In chinesischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Die Wanze
Meng Theatre Studio, China
20:00 - 22:00 Uhr / Im Anschluss: Gespräch
24 Jan
Gastspiel. In russischer Sprache mit englischen und deutschen Übertiteln
Underground Girls
Ilchom-Theater Taschkent, Usbekistan
20:00 - 21:20 Uhr
24 Jan
Multimedia Vortrag. In deutscher Sprache
Couchsurfing in der Ukraine
20:00 - 22:00 Uhr
25 Jan
Stadtführung 2. Kein Kartenverkauf vor Ort
2. Ermunterungen z.Vergnügen d.Gemüts
Treffp.:Gänsemarkt vor dem Lessing-Denkmal
11:00 - 13:00 Uhr
25 Jan
Gastspiel. In russischer Sprache mit englischen und deutschen Übertiteln
Underground Girls
Ilchom-Theater Taschkent, Usbekistan
20:00 - 21:20 Uhr / Im Anschluss: Gespräch
26 Jan
Gastspiel. In deutscher Sprache
Akins Traum
Burgtheater Wien, Österreich
19:00 - 21:00 Uhr
26 Jan
Der Wij
von Bohdan Pankrukhin & Kirill Serebrennikov inspiriert von Nikolai Gogol
Regie: Kirill Serebrennikov
19:00 - 21:00 Uhr / Im Anschluss: Gespräch
27 Jan
Gastspiel. In deutscher Sprache
Akins Traum
Burgtheater Wien, Österreich
19:00 - 21:00 Uhr / Im Anschluss: Gespräch
27 Jan
Tanz Gastspiel. In englischer Sprache, mit wenig Worten
Die Trauer des Dämons
Dialougue Dance Company, Berlin, Hamburg
20:00 - 21:00 Uhr
28 Jan
Gastspiel. In persischer Sprache mit englischen und deutschen Übertiteln
Blind Runner
Mehr Thearte Group Teheran, Iran
20:00 - 21:00 Uhr
28 Jan
Lesung
Hallo, hier spricht Nawalny
20:00 Uhr / Im Anschluss: Gespräch
29 Jan
Stadtführung 3. Kein Kartenverkauf vor Ort
3.Lessing, Struensee u. d. Aufklärung in Altona
Treffp.:Ecke Königstr./ Holstenstr.
11:00 - 13:00 Uhr
29 Jan
Gastspiel. In persischer Sprache mit englischen und deutschen Übertiteln
Blind Runner
Mehr Thearte Group Teheran, Iran
20:00 - 21:00 Uhr / Im Anschluss: Gespräch
30 Jan
Lesung und Gespräch
Niemandes Schwester
20:00 Uhr / Im Anschluss: Gespräch
31 Jan
Gastspiel. In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Jungle Book reimagined
Akram Khan Company, Großbritannien
19:00 - 21:10 Uhr
31 Jan
Tanz Gastspiel. In englischer Sprache, mit wenig Worten
Die Trauer des Dämons
Dialougue Dance Company, Berlin, Hamburg
20:00 - 21:00 Uhr / Im Anschluss: Gespräch
01 Feb
Stadtführung 3. Kein Kartenverkauf vor Ort
3.Lessing, Struensee u. d. Aufklärung in Altona
Treffp.:Ecke Königstr./ Holstenstr.
11:00 - 13:00 Uhr
01 Feb
Gastspiel. In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Jungle Book reimagined
Akram Khan Company, Großbritannien
19:00 - 21:10 Uhr / Im Anschluss: Gespräch
01 Feb
Gastspiel. In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln.
How Goes The World-Histoire(s) du Théatre V
NTGent/Tim Etchells, Belgien
20:00 - 21:45 Uhr /
02 Feb
Stadtführung 2. Kein Kartenverkauf vor Ort
2. Ermunterungen z.Vergnügen d.Gemüts
Treffp.:Gänsemarkt vor dem Lessing-Denkmal
11:00 - 13:00 Uhr
02 Feb
Stadtführung 1. Kein Kartenverkauf vor Ort
1. Solidarität, Utopien und Fluchten
Treffp.:Ecke Stadthausbrücke/Neuer Wall
14:00 - 16:00 Uhr
02 Feb
In deutscher Sprache
Lange Nacht der Weltreligionen 2025
Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau?
18:00 - 21:30 Uhr
02 Feb
Gastspiel. In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln.
How Goes The World-Histoire(s) du Théatre V
NTGent/Tim Etchells, Belgien
20:00 - 21:45 Uhr / Im Anschluss: Gespräch