Logo of theaterkompass.de
HomeBeiträge
Grazer Neufassung: „Die Minderleister“ von Peter Turrini Grazer Neufassung: „Die Minderleister“ von Peter Turrini Grazer Neufassung: „Die...

Grazer Neufassung: „Die Minderleister“ von Peter Turrini

Premiere am Freitag, den 20. April um 19 Uhr 30 auf der Hauptbühne im Schauspielhaus Graz.

 

„Ist die Welt ungerecht oder ist sie nicht ungerecht?“ fragt Stahlarbeiter Hans, als er von seiner Entlassung erfährt. Bisher kam Hans in seinem Leben ganz gut ohne diese Welt zurecht, in seiner eigenen kleinen Welt, die um die Arbeit im Stahlwerk und seine Frau Anna kreist.

Dass er der Beste in seiner Partie am Hochofen ist, dass er eine Familie gründen will, dass seine Frau Träume hat und dass seine Identität als Mensch Dass er der Beste in seiner Partie am Hochofen ist, dass er eine Familie gründen will, dass seine Frau Träume hat und dass seine Identität als Mensch an dieser Entlassung zu zerbrechen droht, schützt ihn nicht vor betriebswirtschaftlichen Konzepten, die ihn wegrationalisieren. Hans führt einen ohnmächtigen Kampf gegen anonyme Marktgesetze, die ihm seine materielle und vor allem die seelische Existenzgrundlage nehmen.

 

Als ich das Stück ‚Die Minderleister’ 1987 schrieb, war die Krise der Stahlindustrie an ihrem Höhepunkt angelangt: im Ruhrgebiet wurden große Stahlwerke geschlossen, in der österreichischen VOEST Massenentlassungen durchgeführt. Alle redeten von ‚unbedingt notwendigen Strukturmaßnahmen’, von der alles entscheidenden Wirtschaftlichkeit, die nur durch ein ‚Schlankerwerden’ der Lohnkosten zu erreichen sei. Vom Los der betroffenen Arbeiter redete fast niemand. Es war die Geburtsstunde jenes Satzes, der heute wie ein Dogma einer seligmachenden Religion verkündet wird: ‚Geht es der Wirtschaft gut, so geht es allen gut’. Die Arbeiter selbst mussten glauben, sie seien die Verursacher der Krise, sie hätten ihre Entlassung mit der Einsicht in die Notwendigkeit hinzunehmen.

Peter Turrini, März 2006

 

Auf Veranlassung des Schauspielhaus Graz hat Peter Turrini „Die Minderleister“ erweitert und verfolgt das Schicksal seiner Figuren bis in unsere Gegenwart: Das ehemalige Stahlwerk ist mittlerweile ein Industriedenkmal und wird für Kulturveranstaltungen genutzt. Ein Stahlarbeiter wie Hans wird in der globalisierten Welt nicht mehr gebraucht, höchstens am anderen Ende der Welt, wo er ein Bruchteil der Kosten verursacht. Gefragt ist der Flexible und Ungebundene, der sich und seinen Arbeitsplatz immer wieder neu erfindet.

 

Heute macht in vielen Betrieben die halbe Belegschaft die doppelte Arbeit. In etlichen Stahlwerken (vor allem in Deutschland) finden Kunstveranstaltungen statt. Ein Hochofen (in einen solchen ist meine Hauptfigur, der Stahlarbeiter Hans, gesprungen) wird immer wieder von Objektkünstlern verwendet. Die ersten Anzeichen von Globalisierung (Anna, die Frau von Hans, eine Textilarbeiterin, versteht nicht, warum ihre Firma nach Spanien verlegt werden soll) haben sich inzwischen zur weltumfassenden Realität entwickelt: Wo die Arbeiter weniger kosten, dort wird produziert. Wer heute das Wort ‚Arbeiterklasse’ in den Mund nimmt, wird als ‚Ewig-Gestriger’ belächelt. Die Reichen werden immer reicher, die Armen werden immer ärmer. Der zynische Satz ‚Geht es der Wirtschaft gut, so geht es allen gut’ wird selbst von seinen Opfern nachgebetet.

Peter Turrini, März 2006

 

Die Antworten, die Hans auf seine Frage bekommt, warum die Welt so ist wie sie ist, kann er immer weniger verstehen. Peter Turrinis dramatisches Plädoyer für eine gerechtere Welt und die Würde der Menschen in dieser Welt ist heute aktueller den je.

 

Regie: Alexander Kubelka

Bühne: Paul Lerchbaumer

Kostüme: Devi Saha

Choreographie: Bert Gstettner

Dramaturgie: Ingunn Wittkopf

Mit: Julian Greis, Jaschka Lämmert, Erik Göller, Daniel Doujenis, Markus Schneider, Daniel Alvermann, Gerhard Balluch, Maximilian Held, Therese Herberstein, Susanne Weber, Gerhard Liebmann, Gerti Pall, Otto David

 

Weitere Informationen zu diesem Beitrag

Lesezeit für diesen Artikel: 17 Minuten



Herausgeber des Beitrags:

Kritiken

MIT LEIDENSCHAFTLICHEM ÜBERSCHWANG -- Richard Wagners "Walküre" mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra konzertant im Festspielhaus/BADEN-BADEN

Wagner hatte die Komposition der "Walküre" im Sommer 1854 begonnen, noch vor der Vollendung der "Rheingold"-Partitur. Der Dirigent Yannick Nezet-Seguin begreift mit dem vorzüglich disponierten…

Von: ALEXANDER WALTHER

AUFSTAND DER UNTERDRÜCKTEN -- "Farm der Tiere von George Orwell im Schauspielhaus Stuttgart

"Kein Tier in England ist frei!" So lautet das seltsame Motto von George Orwells "Farm der Tiere", die wie "1984" auch irgendwie eine seltsame Zukunftsvision ist. Die Tiere wie Hunde, Hühner, Schafe…

Von: ALEXANDER WALTHER

VERWIRRUNG BIS ZUM SCHLUSS -- "Es war einmal ein Mord" von Giovanni Gagliano im Theater Atelier Stuttgart

Eine geschickt verwobene und raffinierte Handlung präsentiert Vladislav Grakovski in seiner Inszenierung des Kriminalstücks "Es war einmal ein Mord" von Giovanni Gagliano. Spannung, Humor und…

Von: ALEXANDER WALTHER

BERÜHRENDE MOMENTE -- "Spatz und Engel" mit dem Tournee-Theater Thespiskarren (Produktion Fritz Remond Theater im Zoo, Frankfurt) im Kronenzentrum BIETIGHEIM-BISSINGEN

Edith Piaf und Marlene Dietrich stehen hier im Schauspiel mit Musik von Daniel Große Boymann und Thomas Kahry als zwei Göttinnen des Chansons im Mittelpunkt des Geschehens. Und es ist gar nicht so…

EIN ÜBERZEUGTER HUMANIST -- 5. Sinfoniekonzert des Staatsorchesters Stuttgart in der Liederhalle Stuttgart

Das Stück "Felder...im Vorübergehen" für Streichorchester aus den Jahren 1993/94 von Bernhard Lang ist nicht so spektakulär wie seine Oper "Dora", besitzt aber durchaus charakteristische…

Von: ALEXANDER WALTHER

Alle Kritiken anzeigen

folgen Sie uns auf

Theaterkompass

Der Theaterkompass ist eine Plattform für aktuelle Neuigkeiten aus den Schauspiel-, Opern- & Tanztheaterwelten in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Seit 2000 sorgen wir regelmäßig für News, Kritiken und theaterrelevante Beiträge.

Hintergrundbild der Seite
Top ↑