Und noch heute, mehr als 700 Jahre danach, wird gerätselt: Wurden die jungen Menschen wegen Nahrungsknappheit ausgesiedelt? Begaben sie sich auf einen Kinderkreuzzug? Erlagen sie der Tanzwut? Oder sind die Eintragungen ins Stadtbuch etwa gefälscht und alles ist nur ein Märchen? Erst im 16. Jahrhundert wurde das Verschwinden der Kinder in Zusammenhang mit einem um seinen Lohn geprellten Rattenfänger gebracht.
George Benjamin, der u.a. für seine beiden Opern Into the Little Hill (2006) und Written on Skin (2012) zahlreiche internationale Auszeichnungen erhielt, gilt als einer der renommiertesten zeitgenössischen Komponisten unserer Tage. Erst im März diesen Jahres stand sein Schaffen im Zentrum des Toronto Symphony’s „New Creations Festival“, im August werden Into the Little Hill und Written on Skin im Rahmen des Lincoln Center „Mostly Mozart“ Festival in New York aufgeführt. Martin Crimps Theaterstücke (u.a. Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino, In der Republik des Glücks, Die Stadt, Weniger Notfälle) gehören auch in Deutschland seit Jahren zu den meist gespielten. Die erste Zusammenarbeit dieser beiden Künstler führte zu einer knapp formulierten Neuerzählung der Geschichte vom „Rattenfänger von Hameln“ in acht Szenen, jede minutiös geplant und kompromisslos ausdrucksstark. Benjamin und Crimp versetzen die berühmte Sage in eine „Stadt am weißen Hügel“, die auch unsere sein könnte. Dort kämpft ein Minister um seine Wiederwahl, für die er sich der Forderung des Volks, die lästigen Ratten zu beseitigen, beugen muss. Er nimmt die Dienste eines mysteriösen Rattenfängers in Anspruch, prellt ihn dann jedoch um den vereinbarten Lohn. Mit dem fünfzehnköpfigen Orchester, das von der Bassflöte, zwei Bassetthörnern, einem Banjo und einem Zymbal geprägt wird, erschafft Benjamin orchestral anmutende eigenartige Klangwelten, mit welchen die Figuren der Geschichte konfrontiert werden.
George Benjamins Oper Into the Little Hill. Der Rattenfänger von Hameln ist die zweite Neuproduktion der Jungen Oper Stuttgart in der laufenden Spielzeit. Regisseurin Jenke Nordalm konzipiert ihre Interpretation der „Lyrischen Erzählung in zwei Teilen“ für Zuschauer ab 12 Jahren. Nordalm inszenierte an der Jungen Oper bereits das Intergenerationenprojekt Irgendwie Anders (2012/13). Der Dirigent Nicholas Kok, der im Großen Haus zuletzt bei Orpheus und Eurydike und Iphigenie in Aulis am Pult des Staatsorchesters zu erleben war, leitet das fünfzehnköpfige Projektorchester. Die Ausstattung liegt in den Händen von Vesna Hiltmann. Christine Chu wird die choreografische Mitarbeit übernehmen. Sie kreierte u.a. die Choreografien für das mit dem BKM-Preis für Kulturelle Bildung 2014 ausgezeichnete Projekt Ein Dorf im Widerstand und unterrichtet seit 2006 an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart Intermediales Gestalten.
Die Nachwuchssängerinnen Marie-Pierre Roy und Nadia Steinhardt verkörpern – wie von Komponist George Benjamin vorgesehen – sämtliche Partien des Werks, vom geheimnisvollen Rattenfänger über die vom Erfolg besessene Ministerfamilie bis zur rattenhassenden Volksmasse und den Erzählern. Regisseurin Jenke Nordalm untersucht die feinen Schattierungen zwischen Schuld und Notwendigkeit, zwischen Lüge und Wahrheit sowie die von George Benjamin etablierte Frage nach der Funktion und der Macht von Musik und fordert die jungen Zuschauer zum genauen Mitdenken auf in einer Geschichte, die Querverbindungen zu aktuellen und vergangenen politischen Ereignissen aufweist. Dafür erweiterte Nordalm die Besetzung um die Schauspielerin Julienne Pfeil, die in einem Prolog vom bis heute ungeklärten Verschwinden der 130 Hamelner Kinder berichtet und den Denkprozess über mögliche Ursachen und Zusammenhänge in Gang setzt, sowie um eine rund zwanzigköpfige Bewegungsgruppe von Kindern zwischen 8 und 12 Jahren, welche als fragende, staunende und urteilende Kinder - oder sind es Ratten? - auf unberechenbare Weise die von den Erwachsenen behaupteten Weltsichten sprengen.
Oper ab 12 Jahren
Lyrische Erzählung in zwei Teilen
Text: Martin Crimp
In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Musikalische Leitung Nicholas Kok
Regie Jenke Nordalm
Ausstattung Vesna Hiltmann
Choreografische Mitarbeit Christine Chu
Dramaturgie Barbara Tacchini
Besetzung
Sopran (Die Masse/Der Fremde/Erzähler/Kind des Ministers) Marie-Pierre Roy
Mezzosopran (Die Masse/Erzähler/Minister/Frau des Ministers) Nadia Steinhardt
Erzählerin Julienne Pfeil
Kinder, Ratten Kinder aus Stuttgart und Umgebung
Projektorchester der Jungen Oper
Weitere Vorstellungen: 14. | 16. | 18. | 20. | 23. | 24. | 26. | 28. | 30. Juni | 2. | 4. Juli 2015