"Wo die Gesänge wahr, und länger die Frühlinge schön sind, und von neuem ein Jahr unserer Seele beginnt." Am Ende seines ergreifenden Gedichts "Menons Klagen um Diotima" beschwört Friedrich Hölderlin ein Land der Verheißung, der erfüllten Gefühle und der überwundenen Selbstentfremdung. Nun, in Elfriede Jelineks Wirtschaftskomödie "Die Kontrakte des Kaufmanns" gibt es zwar auch Gesänge, aber die preisen die Glückszustände der Profiteure des Finanzkapitalismus. Und Hoffnung können sich nur die machen, die wissen, nach welchen Regeln andere, nicht weniger Gierige um ihr Geld geprellt werden. Utopisch im negativen Sinne sind allenfalls Zynismus und Chuzpe, mit der dieser monetäre Umverteilungsprozess ins Werk gesetzt wird. Ergriffen sind wir vom nimmermüden Schwall der Sprechblasen, Parolen und Slogans, die dabei in Umlauf gesetzt werden. Die Vorgeschichte der gegenwärtigen Finanzkrise als gigantisches Sprachspiel, als Welttheater der schönen Worte und täuschenden Glücksbilder – dies ist Jelineks eigentliches Thema, wenn vom Treiben der scheinbar so ehrbar-ehrlichen Kaufmänner und –frauen im Kölner Schauspiel die Rede ist.
Dokumentartheater ist das alles natürlich nicht: Weder erfahren wir etwas Konkretes von jenem, schon ein paar Jahre zurückliegenden österreichischen Finanzskandal, Ausgangspunkt des Textes, noch von den Mechanismen, die zum globalen Kollaps von Börsen, Banken und Märkten geführt haben. Auch ist die dramaturgische Klammer, die das vierstündige Spektakel dieser Uraufführung zusammenhält, eher einfach: Da ist die Gruppe der geldgeilen Kleinanleger, die von ebenso lüsternen, aber ungleich versierteren Maklern, Spekulanten und anderen nicht weniger umtriebigen Kapitalhaien um ihr sauer Erspartes gebracht werden. Während jene im scheinheiligen Selbstmitleid versinken, werden diese nicht müde, den Angeschmierten und Ausgeplünderten Spott und Hohn hinterher zu werfen: "Ihr Geld haben wir." Statt eines großräumigen Plots gibt es eine Fülle kleiner Auftritte und Szenen, in denen die Nobelpreisträgerin in der von ihr gewohnten "metatextuellen" Manier mit ihrem Sprachmaterial jongliert und dieses zu immer neuen Figuren arrangiert. Das ist über weite Strechen hinweg virtuos und atemberaubend, aber auch manisch und obsessiv – und sicher nicht immer aufklärerisch. Der alte Brecht hätte bestimmt keine helle Freude daran gehabt...
Viele aus dem Publikum hatten dies offensichtlich auch nicht, denn die Reihen im zunächst vollbesetzten Kölner Schauspiel lichteten sich im Verlauf der Aufführung doch ganz beträchtlich. Dabei unternahm das Regieteam um Nicolas Stemann alles nur Erdenkliche, um den bis zur Ermüdung wiederkehrenden Grundmustern des Textes mit einer Fülle von Einfällen zu begegnen. In allen Stimmlagen wurde gesprochen, geflüstert und gebrüllt, mal solistisch, mal im Chor. Es wurde gesungen und getanzt, und am Ende wanderte das toll und bis an die physischen Grenzen aufspielende Ensemble sogar über die Köpfe des Publikums hinweg in den Zuschauerraum. Mittels einer großen Digitalanzeige war zu verfolgen, wieviel Spielzeit man noch vor sich hatte. Getränke konnten in die Vorstellung mitgebracht, die Geschehnisse auf der Bühne über Lautsprecher im Foyer mitverfolgt werden. Wer bis zum bitteren und tödlich leisen Schluß blieb und den Schwall der endlich verstummenden Worte bis zur Neige auskostete, hatte (bei allen Fragezeichen im Detail) einen der spektakulärsten Kölner Theaterabende der letzten Zeit erlebt, der vom Publikum mit frenetischem Applaus und Standing Ovations belohnt wurde. Und manch einer wird dabei angesichts eigener Sorgen und Nöte Jelineks Aphorismus zugestimmt haben, wonach Geld nicht alles, aber leider eben alle ist...
Uraufführung am 16. April 2009