Als "L’Après-midi d’un Faune" nach der Musik von Claude Debussy im Jahre 1912 von Waslaw Nijinsky uraufgeführt wurde, löste es einen riesigen Skandal aus, und Nijinski wurde mit seiner bahnrechenden Interpretation zum Wegbereiter des modernen Tanztheaters. Marie Chouinard schuf 1994 eine eigene Version, in der sie die Selbstverliebtheit des Fauns betont, indem sie die Partien der Nymphen streicht und ihn als Solist auftreten lässt, hier interpretiert von einer Frau, was so ungewöhnlich nicht ist, schon Nijinskys Schwester Bronislawa trat in der Rolle des Fauns auf. Carol Prieur tanzt ihn in dieser Version männlich, kraftvoll und erdig.
Auch Chouinards "Le Sacre du Printemps", das zweite Stück des Abends, setzt den Schwerpunkt auf die Soli. Das 1993 uraufgeführte Stück startet mit einer Komposition von Robert Racine, die sich so anhört, als würde jemand ganz schnell etwas auf Papier schreiben. Strawinsky beim Schöpfungsakt seines Werkes? Die Tänzer bewegen sich langsam und reduziert dazu, in Einstimmung auf den Titel wirkt das fast wie eine Abstraktion des Sacre-Balletts, eine Suche nach einer neuen Form.
Dann endlich setzt Strawinkys Musik ein. Chouinard findet dafür ganz eigene Bilder, die mit dem bekannten archaischen Frühlingsopfer nichts mehr gemein haben. Stattdessen werden wir Zeugen des Erwachens der Natur, des Keimens der Pflanzen und dann, im Duo getanzt, des Balzrituals der Vögel. Die Kraft der Natur, die mit aller Macht im Frühling hervorbricht, der Pflanzen, die durch die Erde dringen, der Tiere, die sich paaren, wird hier anschaulich vorgeführt. Die Tänzer werden einzeln in einem Lichtkegel ausgeleuchtet, so dass sich bei gleichzeitiger Beleuchtung mehrerer Tänzer eine beeindruckende Lichtarchitektur ergibt.
Auch wenn in Chouinards Version kaum dynamischen Gruppenformationen choreografiert sind, die den Ursprungs-Sacre so eindrucksvoll kennzeichnen, wird durch die kraftvollen Soli die gleiche Dynamik erreicht. Die bizarren, spitzen, gebogenen Hörner, die sich die Tänzer mitunter angelegt haben, die sowohl als keimende Sprossen als auch als Phallussymbole gedeutet werden können, rufen Bilder von bezaubernder Poetik hervor. Chouinards "Le Sacre du Printemps" ist ein absolutes Highlight, in perfekter Ausstattung, perfekt getanzt und rief daher auch beim Publikum Begeisterungstürme hervor.
"Le Sacre du Printemps" von Chouninard steht übrigens am Beginn einer Reihe von Versionen des "Sacre", die im September 2010 in der neuen Spielzeit im Tanzhaus NRW zu sehen sein werden.
"Prélude à l’Après-midi d’un Faune"
Choreografie: Marie Chouinard
Tanz: Carol Prieur
Musik: Prélude à l’Après-midi d’un Faune" von Claude Debussy (1894)
Licht: Alain Lortie
Kostüme: Luc Courchesne; Louis Montpetit, Marie Chouinard
"Le Sacre du Printemps"
Choreografie: Marie Chouinard
Tanz: alle Kompaniemitglieder
Musik: Geräuschcollage von Robert Racine (1992), "Le Sacre du Printemps" von Igor Strawinsky (1913)
Licht: Marie Chouinard
Kostüme: Vandal
Vorstellungen Ende April bis 2. Mai 2010 in Düsseldorf