Es könnte alles so schön sein. König Oedipus regiert seit Jahren die reiche Stadt Theben, in die er als Fremdling gekommen war. Er ist verheiratet mit der Witwe seines Vorgängers, der von Unbekannten erschlagen wurde, er hat viele Kinder und eine unangefochtene Macht.
Dass einst vom göttlichen Orakel etwas Grauenhaftes, Undenkbares prophezeit wurde, haben alle bis jetzt erfolgreich verdrängt. Aber vorbestimmtes Unheil bricht aus, auch wenn es noch so lang geschlafen hat. Die Stadt wird plötzlich von einer schrecklichen Seuche heimgesucht, deren Grund der ungesühnte Mord am alten König sein muß.
So beginnt das grandiose Stück von Sophokles, und es kann nicht anders enden als mit dem totalen Untergang derer, die ihr Glück auf dem schwankenden Boden ungeklärter Schuld errichten wollten.
Oedipus ist wie keine andere Figur aus der Antike in unser heutiges Bewußtsein gedrungen. Sigmund Freud bezeichnete die Oedipus-Geschichte als Grundmuster für geheime Wünsche heranwachsender Männer, den Vater zu töten und die Mutter als Frau zu nehmen. Da diese Hintergründe so bekannt sind, ist es besonders spannend, auf der Bühne mitzuerleben, wie sich im griechischen Drama die Wahrheit Zug um Zug aus der Geheimnistuerei befreit.
Oedipus steht unter dem Zwang zur lückenlosen Aufklärung. Er kann nicht leben unter dem lautgewordenen Verdacht, die wichtigsten Tabus gebrochen zu haben. Seine Mutter und Frau Jokaste weiß längst, dass diese Wahrheit nur Tod bedeuten kann. Als Verfechterin des Lebens um jeden Preis versucht sie bis zum bitteren Ende, das Gschehene zu verschleiern. Beide vollstrecken schließlich nichts anderes als den vernichtenden Plan der Vorsehung.
Eine Problematik, die heute genauso heiß diskutiert wird wie zu allen Zeiten. Man denkt unwillkürlich an das Entschlüsseln der menschlichen Gene, mit dessen Hilfe schon im Mutterleib zukünftige Krankheiten, Behinderungen oder Eigentümlichkeiten erkannt werden. können. Man denkt an die verhängnisvollen Tabuverletzungen in unserer scheinbar so freien Gesellschaft. An heutige Macht und ihre Verknüpfung mit Schuld.
Das neue Leitungsteam des Stadttheaters Aachen hat mit der Wahl dieses Stücks zum Spielzeitbeginn anspruchsvolle Maßstäbe gesetzt. Oberspielleiter Michael Helle ist ihnen mit seiner Inszenierung gerecht geworden. Dies vor allem dank seiner prägenden Regiekonzeption und einer sehr genau dazu passenden Ausstattung von Dieter Klaß. Die Bühne ist ein steiles hölzernes Treppengerüst, das nach links leicht abfällt, mit einer Mittelplattform, die auch den Eingang zum Palast markiert. Eine zwingende Metapher für Aufstieg und Absturz. In der fantasievollen Beleuchtung nimmt sie verschiedene Gestalten an, Stadtzentrum und Zuschauerrang, Regierungsplatz und Tribunal.
Die handelnden Personen, in eine Mischung aus historisch und neu gekleidet, sind alle kahlköpfig, was ihnen alterslose, urtypische Züge verleiht. Sprache und Bewegung wirken bis ins letzte durchdacht.
Marita Breuer als Jokaste im brandroten Kleid spielt kraftvoll und unbeirrbar den Inbegriff der selbstbewußten Frau, die sich für fähig hält, einer früheren Schuld und einem gnadenlosen Schicksal die Stirn zu bieten. Die eindrücklichste schauspielerische Leistung des Abends. Der sehr junge, begabte Markus Heinicke füllt die Riesendimensionen der Oedipusrolle noch nicht aus. Seine Stärke ist der kluge Umgang mit den eigenen Mitteln und eine leidenschaftliche Intensität. Die anderen Figuren und der Chor sind in der klaren Form gut aufgehoben, wenn auch als Spieler von unterschiedlicher Überzeugungskraft. Man spürt, dass hier ein neues Ensemble auf dem Weg ist, sich selbst und zueinanderzufinden.
Ein ausgezeichneter, mutiger Start!