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Das angeschlagene Selbstgefühl

„Judas“ von Lot Vekemans und „König Lear“ von William Shakespeare in den Münchner Kammerspielen.

 

Zwei Inszenierungen ihres Intendanten Johan Simons hatten die Münchner Kammerspiele an den Osterfeiertagen 2013 auf dem Spielplan. Der Titel ist jeweils schlicht und folgerichtig ein Männername. In beiden Stücken geht es zentral um das Schicksal eines Mannes, der in seinem Wirkungsbereich eine umstrittene Rolle spielt und der bittersten Verachtung anheimfällt.

 

Zuerst als deutschsprachige Erstaufführung ein Monolog der 48-jährigen holländischen Autorin Lot Vekemans, mit dem sie sich der schwer belasteten Figur des Judas nähert. Sie zeichnet ihn als zweitausendjährigen, ruhelosen Untoten, der in der Hölle seiner Gedanken für immer um seinen Verrat an Jesus Christus kreist, und um die Gründe und die Folgen und die Urteile der Nachwelt. Dazu ist er verdammt, seit er sich damals kurz vor der Kreuzigung von Jesus das Leben nahm. Nach und nach wird seine triste Ratlosigkeit, seine vergebliche Suche nach den Konturen des eigenen Ichs immer deutlicher - und immer undurchdringlicher die Leere, in der er schmachtet.

 

Warum er als junger Mann alles hinter sich ließ, um einem charismatischen Wanderprediger zu folgen, kann er nicht mehr wirklich nachvollziehen oder begründen, genauso wenig wie seinen Verrat. Er wollte damit dem Meister doch in Wirklichkeit nicht schaden, das weiß er ganz sicher. Im Gegenteil, er wollte ihm dazu verhelfen, den immer wieder angekündigten Opfertod für die Menschheit zu vollziehen. Oder war es doch ganz anders, war der Verrat doch ein schweres Vergehen, das niemals verziehen werden kann, so dass der Name Judas in Ewigkeit als Inbegriff des widerwärtigen Denunzianten gelten wird? Aus dem schmerzhaften Dilemma dieses ergebnislosen Sinnierens gibt es keine Erlösung, schon gar keine christliche Absolution.

 

Steven Scharf ist ein ernsthafter, einfühlsamer und kluger Darsteller der zerfaserten Judas-Persönlichkeit. Als splitternackter lebender Leichnam kauert er auf einer hohen Leiter, meistens kehrt er dem Publikum den Rücken. Neben seinem Kopf blaken zwei Kerzen vor einem kleinen Spiegel (Bühne Bettina Pommer), beleuchtet wird er schlaglichtartig, selten löst er sich aus der abgewandten Haltung. Sein Sprachduktus ist zuerst angestrengt und fast eintönig, wie von weit her, wie ein mühsames Buchstabieren, so schwer fällt das Er-innern. Dann öffnet sich zuweilen die ganze Gestalt - und ihre Sprache - in eine fiebrige Dynamik, um alsbald wieder in Resignation zu fallen. Eine große, eindrucksvolle Leistung.

 

Johan Simons versah seine ergreifende Inszenierung mit einem Graben zwischen Darsteller und Publikum. Die Zuschauer dürfen nur auf dem Balkon oder in den Rängen Platz nehmen, entfernt aber auf Augenhöhe mit dem Bühnengeschehen, was die scheinbare Weltferne des Monologs unterstützt und gleichzeitig aufhebt.

An gewohnt prominenter Stelle auf dem Programmzettel erscheint der Name der Kostümbildnerin. Womit wohl in diesem Fall der Entschluss von Henriette Müller gewürdigt werden soll, auf jegliche Kostümierung zu verzichten, was auch wirklich eine ausgezeichnete Idee war.

 

Premiere am 19. Dezember 2012

 

***

 

Shakespeares König Lear regiert seit Jahrzehnten mit der knallenden Peitsche sein Reich, das in Simons’ Inszenierung ein bäuerlicher Agrarstaat ist. Der alt gewordene Tyrann will jetzt das ganze Herrschaftsgebiet unter seine Töchter aufteilen. Er hat deren drei. Aber nur die beiden Älteren, die ihn vorderhand mit Schmeicheleien überhäufen, ernennt er als neue Besitzerinnen. An die Liebe der ehrlichen, ihm ohne große Worte zugewandten Jüngsten glaubt er nicht. Er enterbt und verbannt sie im Zorn über ihre anscheinende Gefühllosigkeit.

 

Kaum hat er sein Imperium aus der Hand gegeben, zerfällt seine Autorität und damit das, was früher seine Persönlichkeit ausmachte. Die beiden Erbinnen samt Anhang können ihn gar nicht schnell genug loswerden. Sie beleidigen ihn mit höhnischen, verächtlichen Sprüchen über seine Altersschwäche. Sie nehmen ihm alles weg, was er seiner Ansicht nach zu einem standesgemäßen Leben braucht und schicken ihn buchstäblich in die Einöde, wo er fortan am Rand des Wahnsinns dahintaumelt.

 

Shakespeares Stück über einen gnadenlosen Generationenkampf ist so riesengroß und genial, dass sich wohl die meisten Regisseure dazu entschließen, gewisse Teilaspekte des düsteren theatralischen Universums hervorzuheben. So auch Johan Simons. Er hat in München eine fest zupackende, drastische, wie aus einem dröhnenden Bauerntheater erwachsene Inszenierungsform gewählt. Kein Wunder, dass fünf echte ausgewachsene Schweine den verzweifelten König, der alles und sich selber verloren hat, eine Weile mit ihrem Herumtapsen begleiten. Das bringt die in der Kreatürlichkeit gefangene menschliche Natur, ihre Triebe und Leiden voll unverblümter Sinnhaftigkeit auf den Punkt.

 

Dem brachialen Regiekonzept fallen notgedrungen viele Zwischentöne, viele sublime Gedanken-, Gefühls- und Szenenstränge zum Opfer. Die Schauspieler, selbst der wunderbare André Jung als Lear, finden in dieser Gemengelage nicht immer zur überzeugendsten Gestaltungskraft für ihre von Shakespeare mit ungeheurer Klugheit, Sensibilität und Eloquenz erdachten Rollen. Das ist zwar schade, aber unvermeidlich im grellen Schlaglicht auf eine gierige, menschenverachtende Gesellschaft, in der die humaneren Gegenbewegungen scheinbar zu schwach sind, um etwas zu verändern.

 

Die Gefahr, einem so heruntergekommenen Menschheitsmodell, einem so schlimmen Egoismus zu verfallen, ist in unserer Zeit des extremen Reichtums und der extremen Armut, der extremen Spannungen wieder besonders groß. Und Shakespeares Stück als Menetekel besonders aktuell. Deshalb greift uns diese Aufführung mit ihren Stärken und Schwächen kraftvoll ans Herz, so kraftvoll wie sie angelegt ist.

 

Premiere 9. März 2013

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