Mendelssohn überführte die Passion in die weltliche Sphäre eines Konzertsaals – die Matthäuspassion wurde so zu einem überkonfessionellen Kunstwerk.
Weitere 99 Jahre später eröffnete am Potsdamer Platz mit dem „Haus Vaterland“ ein Vergnügungstempel von bis dato nicht gekannten Ausmaßen. Das Caféhaus beherbergte zehn Einzelcafés. Neben der japanischen Teestube gab es ein türkisches Café, ein „urbajowarisches Löwenbräu“, eine italienische Osteria, eine ungarische Csarda, ein Café Grinzing und eine spanische Bodega. Jedes einzelne Café konnte eine Attraktion vorweisen: in den „Rheinterrassen“ konnte man ein Gewitter über dem Strom nachempfinden, im „Löwenbräu“ das Alpenglühen über dem Eibsee. Ein Stab an Künstlern sorgte für das Unterhaltungsprogramm und die „Vaterlandgirls“ tanzten in folkloristischen Kostümen. Das jeweilige Lokalkolorit wurde durch gewaltige illuminierte Panoramabilder erzeugt. Zudem war das „Haus Vaterland“ mit seinen Kammerlichtspielen ein beliebtes Kino in futuristischem Design, ausgestattet mit der neuesten Tonfilmtechnik.
In dem poetischen Musiktheaterexperiment „Café Vaterland – Eine Matthäuspassion“ bearbeitet der Regisseur David Marton zusammen mit dem musikalischen Leiter Jan Czajkowski Fragmente der Matthäuspassion. Die Musik Bachs trifft auf die Idee des „Haus Vaterland“ und seine Geschichte, die von Fernweh und Missverständnissen erzählt, von Größenwahn und Kleinbürgerlichkeit, von Utopie und bösem Erwachen. Im Bühnenraum des heutigen Gorki Theaters, der an ein Kino der 50er Jahre erinnert, entsteht so ein assoziativer Bildstrudel zwischen den Zeiten, zwischen Kino und Caféhaus, Erinnerung und Wirklichkeit, Text und Gesang, angetrieben und grundiert von Bachs Passion. Gemeinsam mit einem Ensemble aus Schauspielern des Maxim Gorki Theaters und Sängern sucht David Marton ungewöhnliche Einblicke in die musikalische Struktur, indem er sie fragmentarisiert und in neue Zusammenhänge transponiert.
Dass die Begegnung zwischen barocker Melancholie und einem überdimensionierten Tanzlokal zu grotesken und surrealen Situationen führt, ist hierbei ein mit Lust am Spiel herbeigeführter Kollateralschaden. In seiner Arbeit forscht David Marton nach der Musikalität geschichtlicher wie aktueller Bilder und Situationen – vor dem Hintergrund der Motive des „Haus Vaterland“ wird der Abend so auch zu einer assoziativen Auseinandersetzung mit der permanenten Identitätssuche und der Sehnsucht nach der Fremde. Als gebürtiger Ungar, der seit zehn Jahren in Berlin lebt, kann Marton sich dabei eines Insider-Blicks von außen bedienen. In erster Linie jedoch geht es ihm um die Musik, deren Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit er exzessiv auszuloten bereit ist. Dabei generiert er die Spielanlässe aus dem musikalischen Material: Ein Konzert, das – ganz im Bachschen Sinne – aus den Fugen gerät.
Es spielen: Theresa Kronthaler, Jelena Kuljic, Ursula Werner, Yuka Yanagihara; Jan Czajkowski, Radoslaw Jozef Drechny, Wolfgang Hosfeld, Ronald Kukulies.
Regie: David Marton, Musikalische Leitung: Jan Czajkowski, Bühne und Kostüme: Alissa Kolbusch, Video: Isabel Robson
Die nächsten Vorstellungen: 25. Februar, 4., 11. und 27. März 2007