Greta Garbo spielte sie, Vivien Leigh und Keira Knightley, um nur einige aus fast zwanzig Verfilmungen innerhalb von 100 Jahren zu nennen. Lew Tolstois Anna Karenina gehört wie Fontanes Effi Briest zu den tragischen Frauenfiguren der Literatur des Realismus – Romane des 19. Jahrhunderts, in denen die Protagonisten sich der Ehre wegen im Morgengrauen duellierten oder in den Selbstmord gingen. Die letzte Option wählten vor allem Frauen, wenn die Verzweiflung zu tief und die gesellschaftliche Ächtung zu massiv wurde.
Auch Anna Karenina ist hin- und hergerissen zwischen Konvention und Leidenschaft, Pflicht und Ausbruch. Viele Choreographen ließen sich von diesem Frauenschicksal zu eindrucksvollen Werken inspirieren. Keine geringere als Maja Plissezkaja choreographierte 1972 ihre Fassung zur Musik von Rodion Schtschedrin – die Hauptrolle tanzte die legendäre Ballerina selbst. Klassische und moderne Fassungen von Boris Eifman, Jochen Ulrich, Alexei Ratmansky und Sidi Larbi Cherkaoui folgten.
Christian Spucks Adaption hatte 2014 beim Ballett Zürich Premiere. In pointierten Szenen und mit größtenteils klassischem Bewegungsvokabular erzählt er die Ehebruchgeschichte aus dem 19. Jahrhundert und stellt sie in die Tradition der Russland-Rezeption: Birkenwälder und schneebedeckte Weiten, die legendären Bälle der St. Petersburger Aristokratie, verführerische Frauen in prunkvollen Kostümen. Die Kehrseite spiegelt sich in der Kälte der Paläste, die Bühne ist groß und meist leer, die Figuren darin verloren wie im wirklichen Leben. Video-Projektionen deuten Orte des Geschehens an, antizipieren das kommende Unglück und werden Sinnbilder für psychologische Vorgänge, Anna Kareninas innere Aufruhr. Durch konkrete Gesten erzählt sich die Geschichte unmittelbar, denn es wird gestritten, geküsst, geliebt und verzweifelt. Die narrativen Anteile sind dabei nie banal und ausschließlich abbildend, vielmehr gehen sie auf in der physischen Stilistik der einzelnen Figuren, die auch in den rein tänzerischen Teilen bestehen bleibt und Prozesse und Veränderungen ohne Worte transportieren kann. Innerhalb der musikalischen Charakterisierung gibt Spuck Anna Karenina durch das Klavier eine Stimme und greift dafür vor allem auf Klavierwerke von Sergej Rachmaninow und Witold Lutoslawski zurück. Der hochromantischen Klangdichte Rachmaninows, die oft genug zum Eskapismus einlädt, setzt er die tief verstörende Musik des 20. Jahrhunderts entgegen und legt Anna Kareninas inneren Vorgänge und Konflikte frei. Die Premiere in München ist die Erstaufführung einer Kreation von Christian Spuck beim Bayerischen Staatsballett.
Christian Spuck, Direktor des Balletts Zürich und ehemaliger Hauschoreograph des Stuttgarter Balletts, ist fasziniert von dieser dramatischen Frauengestalt des 19. Jahrhunderts und will in seiner Fassung die emotionale Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Charaktere plastisch herausarbeiten: „Für mich ist es wichtig bei einem erzählerischen Ballett, dass die Tänzer die Geschichte wirklich erzählen. Das heißt, der Zuschauer versteht, worum es geht. Nicht nur die Handlung, sondern auch die inneren Vorgänge der Figuren, die Emotionen, die Konflikte, die Auseinandersetzungen. Das ist ganz klar Thema. Das ist teilweise in sehr abstrakten Bewegungen gelöst, teilweise aber auch in sehr erzählerischen Bewegungen.“
Zu Sinfonik und Kammermusik, hauptsächlich von Sergej Rachmaninow und Witold Lutosławski, vertanzt Christian Spuck die Geschichte rund um Anna Karenina in pointierte Szenenbilder. Gemeinsam mit dem Zürcher Ausstattungsleiter Jörg Zielinski und der britischen Kostümbildnerin Emma Ryott stellt er das Geschehen in die Tradition der zaristischen Russland-Rezeption. Aus einem von kühler Reduktion geprägten Bühnenbild stechen die üppigen historischen Kostüme der St. Petersburger Aristokratie heraus. Video-Projektionen und Sound-Collagen deuten Orte des Geschehens an, antizipieren das kommende Unglück und werden Sinnbilder für Anna Kareninas innere Aufruhr.
Zudem ist Spuck an Tolstois parallel laufenden Familiengeschichten interessiert: „Am meisten hat mich natürlich die Hauptfigur Anna Karenina fasziniert, aber grundsätzlich das gesamte Gesellschaftsporträt des 19. Jahrhunderts in Russland. Ich habe versucht, das auf drei Paarkonstellationen herunter zu brechen und deren Geschichte zu erzählen.“ Der leidenschaftlichen Affäre Annas mit Graf Wronski stehen der treulose Fürst Stiwa Oblonski und dessen eifersüchtige Ehefrau Dolly sowie die bodenständige Familie von Kitty und Kostja Lewin gegenüber.
Ksenia Ryzhkova und Ivy Amista tanzen die Titelpartie
Die Titelpartie werden Ksenia Ryzhkova sowie Ivy Amista tanzen. Die männlichen Hauptrollen studieren Alejandro Virelles Gonzalez und Jonah Cook sowohl als Graf Wronski als auch als Kostja sowie Tigran Mikayelyan und Osiel Gouneo als Stiwa ein. Die weiteren weiblichen Hauptrollen werden Laurretta Summerscales und Kristina Lind als Kitty sowie Mia Rudic und Séverine Ferrolier als Dolly übernehmen (Besetzungen unter Vorbehalt).
Bereits im Sommer sind die mit dem Spuck-Repertoire vertrauten Ballettmeister Eva Dewaele, Birgit Deharde und Ivan Gil Ortega zur Einstudierung nach München gereist. Christian Spuck selbst wird ab November die Endproben begleiten und seiner Anna Karenina den letzten Feinschliff geben. Die musikalische Leitung für Anna Karenina wird der Gastdirigent Robertas Šervenikas übernehmen und diese Musikcollage zum ersten Mal dirigieren.
Choreographie
Christian Spuck
Musikalische Leitung
Robertas Šervenikas
Bühne
Jörg Zielinski, Christian Spuck
Kostüme
Emma Ryott
Martin Gebhardt
Projektionen
Tieni Burkhalter
Sound-Collagen
Martin Donner
Dramaturgie
Claus Spahn, Michael Küster
Sängerin
Alyona Abramowa
Pianist
Adrian Oetiker
Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Staatsorchester
Sa, 25. November 2017, 19.30 Uhr
Fr, 01. Dezember 2017, 19.30 Uhr
Fr, 23. März 2018, 19.30 Uhr
So, 22. April 2018, 19.30 Uhr
Do, 10. Mai 2018, 18.00 Uhr
Fr, 15. Juni 2018, 19.30 Uhr
Sa, 30.Juni 2018, 19.30 Uhr