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"Winterreise" von Elfriede Jelinek, Städtische Bühnen Münster

Premiere: 21. Dezember 2011, 19.30 h, Kleines Haus. -----

Mit Elfriede Jelineks Winterreise zeigen die Städtischen Bühnen Münster erstmals ein Werk der wichtigsten zeitgenössischen österreichischen Theaterautorin.

Geschrieben im Winter 2010/11, kann es mit zu den persönlichsten Stücken Jelineks gezählt werden, wie sie selbst beschreibt: "Ich wandere nicht mehr gerne, weil ich auch nicht mehr gern aus dem Haus gehe. Jetzt muß ich also sozusagen im Schreiben wandern. Im Stück ist das ein Wandern von hinten nach vorn, wenn man das so sagen kann. Das, was gewesen ist, auch das, was mich seit meiner Kindheit gequält hat, kommt jetzt an. Es ist lang gewandert, und nun ist es bei mir angekommen, als das Frühere, das im Ankommen geborgen wäre, wenn Literatur Psychoanalyse sein könnte, was sie aber nicht ist."

 

Namenspate für das im Februar 2011 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführte Bühnenwerk stand Franz Schuberts 24teiliger Liederzyklus Winterreise, den er 1827 zu Gedichten Wilhelm Müllers komponierte und der die Vertreibung und daran anschließende Wanderung eines jungen Mannes – verstoßen von seiner Geliebten – beschreibt. Inhaltlich zieht sich das Thema des „Verstoßen-Werdens“ und des „Nicht-Dazugehörens“ – begleitet von montageartig in Jelineks Text eingebauten Zitaten des Gedichtzyklus – wie ein roter Faden auch durch ihre Winterreise; Jelinek erklärt Schubert zu ihrem Lieblingskomponisten: „Der Künstler, den ich am meisten bewundere, das größte Genie, das je gelebt hat. Seine Lieder sind eine einmalige Durchdringung von Sprache und Musik, die es so nie wieder (und auch vorher nie) gegeben hat.“ So galt vor allem die Winterreise Schuberts Jelinek als fortlaufende Inspirationsquelle für ihre Werke und fand in der Vergangenheit auf intertextueller Ebene bereits mehrfach Eingang in ihr Schaffen.

 

Winterreise wagt innerhalb von acht Kapiteln einen Spagat zwischen einerseits gesellschaftskritischen Themen der Gegenwart und andererseits einer persönlichen Auseinandersetzung der Autorin mit Zäsuren und Begebenheiten ihrer eigenen Biographie, die auch schon in vorherigen Werken zur Sprache kamen. Neben diese Bezüge treten existentielle Fragen um das menschliche Dasein und seine Eingebundenheit in die Zeit.

 

So behandeln die Kapitel 1, 3 und 5 in erster Linie grundlegende Fragen zur Zeit und ihrem kontinuierlichen Charakter, dem die Endlichkeit des menschlichen Daseins sowie die individuelle Nicht-Zugehörigkeit zur Gegenwart gegenübergestellt wird: „Da ist die eine Wirklichkeit, die der Zeit, da ist die andre: ich.“ Der Mensch befindet sich lebenslang im Wissen um seine eigenen Tod, dem er sich nicht entziehen kann: „Dann frage ich (…), wie viel Zeit mir noch bleibt. (…) wieviel mir noch bleibt, egal wohin ich gehe.“ Einher geht da-mit die Auseinandersetzung um den Sinn der individuellen menschlichen Existenz und ihre pessimistische Reflexion: „Ich lebe nicht und kann nichts, bin aber immer noch da.“ Jelineks Hinwendung zu philosophischer Literatur, ihr sogenannter philosophic turn, vollzog sich Mitte der 1980er Jahre und umfasste auch eine intensive Auseinandersetzung mit Heideggers Werken zur Fundamentalontologie; sie selber führt ihn auch im Literaturverzeichnis zu Winterreise auf.

 

Wie schon in Die Kontrakte des Kaufmanns thematisiert Jelinek auch im 2. Kapitel ihrer Winterreise das parasitäre Verhalten von Wirtschaft und Großbanken. Sie greift den Skandal um die Hypo Group Alpe Adria-Bank (HGAA) auf und beschreibt den Verkauf des österreichischen Bankkonzerns an die BayernLB als eine Hochzeit: Die HGAA wird zur Braut metaphorisiert, deren Verheiratung mit der größeren Bank bereits im Vorfeld eine abgekartete Sache war – und die sich letztlich als ein Milliardenmoloch entpuppte: „Diese Hochzeit ist teuer und wird noch zu bezahlen sein, es wird abkassiert, und die armen Rechnungen bleiben dann am Boden liegen, wer bezahlt?“

 

Im 3. Kapitel wird der Entführungsfall Natascha Kampusch aufgegriffen, indem der kollek-tiv-egoistische Blick einer erbarmungslosen Gesellschaft auf Kampusch gerichtet wird: „Sie ist ein Opfer. Wir wollen hier keine Opfer.“ Die Berechtigung aufgrund ihres Schicksals medial in Erscheinung treten zu dürfen, wird ihr rigoros abgesprochen und mit einem allgemein-gesellschaftlichen Geltungsdrang kontrastiert: „Die Kleine ist weg und glaubt, sie wäre deshalb schon jemand. (…) Sie ist eine, aber wir sind mehr. Wir gehören an die Öffentlichkeit, weil wir die Mehrheit sind.“ Vielmehr wird der Wunsch laut, sie erneut gänzlich aus der menschlichen Gemeinschaft zu eliminieren: „Soll sie bleiben, wo sie ist, ein Keller muß es nicht sein, aber fort soll sie sein und fort bleiben.“

 

Kapitel 6 widmet Jelinek dem schwierigen Verhältnis zu ihrer dominanten Mutter und stellt dies einer ironisch-kritischen Untersuchung von Partnersuche im Internet gegenüber: „Was wunderst du dich, mein Herz (…), du hast sie ja selber eingeholt aus diesem Netz? Mit dem bist du einkaufen gegangen. Nein, keiner darunter, der dich so liebt wie Mama.“ Elfriede und Olga Jelinek verband eine ambivalente Beziehung: Einerseits bevormundete und bestimmte Olga Jelinek ihre Tochter; andererseits ging damit ein inniges Verhältnis von tiefer Verbundenheit zwischen Mutter und Tochter einher. Bereits 1983 setzte sich Jelinek im Roman Die Klavierspielerin mit dem Verhältnis zu ihrer Mutter auseinander. Auch die Einweisung ihres alzheimerkranken Vaters in eine Nervenheilanstalt kam darin vor, und wird nun zum Gegenstand der Betrachtung im 7. Kapitel der Winterreise, in dem der von Mutter und Tochter ungeliebte und in ein Heim ausgewiesene Vater zu Wort kommt: „Ich habe meiner Frau und meiner Tochter geglaubt, daß ich auf Erholung fahre. (…) Sie haben einen Stufenplan,(…), damit sie mich leichter zu den Irren bringen können.“ Zynische Antworten werden der Rede des Vaters entgegengesetzt: „Der hoppelt ja immer hinter uns her, der Vater! (…) Wir bohren einfach ein Loch durch seine Füße, und dort ziehen wir einen Strick durch und fertig, rein mit ihm ins Einfamilienhaus zu den anderen Irren.“

 

Abschließend folgt im 8. Kapitel eine kritische Auseinandersetzung der Autorin mit ihrem eigenen Schaffen: „So, da steh ich also mit meiner alten Leier, immer der gleichen. Wer will dergleichen hören? Niemand.“ Als selber auf schmelzendem Eis stehend und zum En-de hin untergehend beschreibt sich die Autorinnenfigur, der in ihrer Selbstkritik zugestimmt wird: „Immer dasselbe, das muß Ihnen doch selber schon zum Hals heraus hängen! Wie halten Sie das nur aus? Sie müssen sich das doch selber anhören!“

 

Letztlich hält aber gerade das von Jelinek als „alte Leier“ bezeichnete, metaphernlastige und collageartige Textgeflecht – für das sich der Begriff der „polyphonen Textfläche“ etabliert hat – die heterogenen Themenbereiche ihrer Winterreise zusammen. Wie bei Jelinek üblich ohne gekennzeichnete oder eindeutig identifizierbare Sprecher, bietet der Text große Spielräume für Regiekonzept und Textarbeit.

 

Regie: Alexander Schilling

Bühne und Kostüme: Valentina Crnkovič

Musik: Friederike Bernhardt

Programmierung: Florian Michl

Dramaturgie: Justus Wenke

 

Mitwirkende:

Regine Andratschke, Christiane Hagedorn, Julia Stefanie Möller, Carola von Seckendorff, Carolin M. Wirth, Frank-Peter Dettmann, Johann Schibli

 

Matinee:

Sonntag, 18. Dezember, 11.30 h, Theatertreff

 

Weitere Vorstellung im Dezember:

Freitag, 30. Dezember, 19.30 h, Kleines Haus

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Lesezeit für diesen Artikel: 33 Minuten



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