Wieviel Teufelswerk braucht ein Kunstwerk: Ein Theaterdirektor gibt dem jungen Komponisten Henri
den Auftrag zu einer Faust-Oper. Zeit und Geld spielen keine Rolle. Doch statt mit der Arbeit zu beginnen, genießt Henri den unverhofften Wohlstand, lenkt sich mit Reisen ab und amüsiert sich mit Maggy und Greta.
Ein Künstler zwischen Pflicht und Neigung. Unversehens wird Henri zum modernen Faust, der
zwielichtige Auftraggeber sein Mephisto. Der sieht seinen Pakt in Gefahr und wendet sich an das
Publikum. Dies allein soll, mittels eines raffinierten Regelwerks, über Verlauf und Finale von Musik und
Story entscheiden. Endet der sympathische Held gescheitert in der Gosse? Gibt es ein privates Glück?
Oder ein unter Entbehrungen entstandenes Meisterwerk?
Künstler-Zwänge: Der Belgier Henri Pousseur zählt zu den "eigenwilligsten, phantasievollsten und
originellsten Köpfen der musikalischen Nachkriegsavantgarde" (FAZ). "Votre Faust" ist seine einzige
Oper, uraufgeführt 1969 am Kleinen Haus der Mailänder Scala, und entstanden vor dem Hintergrund
der sozialen, kulturellen und politischen Umwälzungen seiner Zeit. Pousseur und der französische
Romancier Michel Butor thematisieren entsprechend auf fulminante und amüsante Weise das Genre
Oper in seinem Beziehungsgeflecht zwischen künstlerischem Anspruch, ökonomischen Gegebenheiten
und dem Publikum. Sie spielen mit biographischen Selbstreflexionen und greifen tief in den Zitatenschatz von Literatur und Musik. Marlowe, Goethe, Gerard de Nerval, ein Sonett von Petrarca
werden mit Motiven von Mozart, Gluck, Offenbach, Webern, Stockhausen und Berio anspielungsreich
zu einer musikalisch-literarischen Collage zusammengefügt. "Eine virtuose Faust-Parodie" schrieb die
Süddeutsche Zeitung und Der Spiegel: "Eines der wichtigsten Werke der Nachkriegszeit." Pousseur geht
dabei unabhängige Wege und verweigert sich den rigiden Ausgrenzungstendenzen der Musik-Avantgarde. Damit gilt er vielen als Renegat. Erst nach Rückschlägen wird "Votre Faust", mit
Unterstützung von Luciano Berio, in Mailand gezeigt. Leider nur in unvollständiger Form.
Die Macht des Publikums: Die Berliner Erstaufführung nimmt das idealistisch-fantastische
Musiktheater von Henri Pousseur und Michel Butor beim Wort und präsentiert "Votre Faust"
vollständig in seiner von seinen Schöpfern intendierten Form. Die Zuschauer finden sich mit
zwölf Musikern, einem Sängerquartett und fünf Schauspielern auf einem Jahrmarkt wieder, dem
Ort der ultimativen Unterhaltung. Es gibt Attraktionen und Verkaufsbuden: Tiere, Geldspiele,
Schießstände, Zuckerwatte, Hühnersuppe, Wein und Bier. Bildende Künstler wurden eingeladen,
die Buden für "Votre Faust" zu gestalten. Sie sind ebenso präsent wie das Regieteam. Das
Publikum soll mit allen ins Gespräch kommen.
Theatermaske und -garderoben sind sichtbar. Spannend wird, aus heutiger Sicht, ob das Publikum sich
von Pousseurs und Butors Enthusiasmus für ein demokratisches Experiment aus dem Geist der 68er
Revolte anstecken lässt oder ob es, von Castingshows und Mitmachtheater ermüdet, auf seiner Rolle als Konsument beharrt.
Henri Pousseur (1929 bis 2009): Nach seinem Studium in Lüttich arbeitet Pousseur dort zunächst als
Kirchenorganist, pilgert aber schon bald ins Mekka der Moderne, zu den Ferienkursen für Neue Musik nach Darmstadt. Der Austausch mit den damaligen Freunden Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen prägt ihn ebenso wie Forschungen an den Elektronischen Studios Mailand und Köln. Später unterrichtet er in Basel, Buffalo und Lüttich, wo er von 1975 bis 1995 das Konservatorium leitet. Bis zu seinem Tod entstehen etwa 150 Werke verschiedener Größe, Gattung und Besetzung.
Michel Butor, 1926 in der Nähe von Lille geboren, gehört in seiner Anfangszeit als Schriftsteller zusammen mit Alain Robbe-Grillet zu den sprachgewaltigsten Wegbereitern des "nouveau roman". Er studiert Philosophie an der Pariser Sorbonne. Zunächst ist er als Französischlehrer in Ägypten, England und Griechenland tätig, später wird er Lektor bei Gallimard. Ab etwa 1960 entwickelt er einen eigenen, unabhängigen Stil und beginnt seine Zusammenarbeit mit Henri Pousseur. Von 1975 bis 1991 lehrt er als Professor an der Universität Genf Französische Literatur.
Aufführung in deutscher Sprache - Übersetzung: Helmut Scheffel - Dauer: ca. 3 Stunden
Die Berliner Neuproduktion "Votre Faust" ist im November 2013 auch am Theater Basel zu sehen.
Komposition Henri Pousseur
Text Michel Butor
Musikalische Leitung, Gesamtleitung Gerhardt Müller-Goldboom
Regie Aliénor Dauchez und Georges Delnon
Bühne Aliénor Dauchez, Georges Delnon und Michael E. Kleine
Einzelszenenbilder Niklas Binzberger, Stefan Träger und Till Wittwer
Kostüme Miriam Marto Licht Jörg Bittner
Gesang Lydia Brotherton, Kerstin Stöcker, Kai-Uwe Fahnert und Martin Schubach (Vocalconsort Berlin)
Schauspiel Julia Reznik, Meridian Winterberg, Franz Rogowski, Peter von Strombeck und Peter Sura
Orchester work in progress - Berlin
SO 31. März 19 Uhr
MO 01. April 19 Uhr