Dieses Stück spielt in Holland. Das 20. Jahrhundert geht während der Spielhandlung zu Ende. In einem frischrenovierten, fleischfarbenen, nackten Wohnzimmerraum versammelt sich nach und nach ein gutes Dutzend Menschen. Sie sind blutsverwandt oder verschwägert. Sie reden, lachen, weinen, liebkosen, streiten, sie stoßen zusammen, sie gehen abrupt auseinander. Sie sind lebhaft und dynamisch, aber ratlos. Sie sehen keinen Sinn in der Länge von Gesprächen. Was heraus muss, ist schnell gesagt. Wenn sie aufs Reden keinen Bock mehr haben, unterbrechen sie den Kontakt bis zum nächsten Mal.
Der Zeitpuls ist hektisch. Scheidungen sind an der Tagesordnung, Verbindungen halten nicht lang. Eine junge Frau bekommt ein Kind vom Vater der jetzigen Frau ihres ehemaligen Mannes. Na und? Die betagte Ehegattin des betagten Kindsvaters stirbt, vielleicht vor Kummer, geht doch weder ihrer Tochter noch den anderen aus dem Sinn und geistert weiterhin durch ihr Haus. Na und? So ist es eben.
Es wäre normal und fröhlich und traurig wie überall. Wenn es nicht um eine spezielle Familie ginge, eine jüdische Familie. Eine Familie also, aus der die Vergangenheit, das Leiden und der Tod in keiner Sekunde wegzudenken sind. Außerdem hat der Begriff Familie als Nest und Zuflucht in der jüdischen Gemeinschaft einen besonderen Stellenwert, deshalb wird die heutige Auflösung der Familienstrukturen als Zumutung empfunden. Als etwas, das eigentlich nicht sein dürfte. Besonders in den Augen der alten Generation, die noch selbst die Schrecken des Holocausts überlebt hat, indem sie nach Holland geflüchtet und knapp der Vernichtung entronnen ist.
Die Tragödie der Alten, ob sie davon geschwiegen oder erzählt haben, lastet wie Blei auf den Schultern der Nachkommen. Wie soll man auf dem Morast einer solchen Vergangenheit aufrecht gehen und frei atmen? Was soll man wissen, was den Alten entreißen, was lieber im Dunkel lassen? Mit dieser Frage kämpft man als Kind des zwanzigsten Jahrhunderts ein Leben lang. Mit dieser Frage kämpft das Stück.
Der allerjüngste Familienspross, dieser späte Sohn des ältesten, tritt erst in der letzten Szene auf, im Jahr 2005. Er fühlt sich wohl. Er erinnert die Älteren lachend daran, dass sie in seiner Kindheit einmal um sein Leben fürchteten, weil er vor einer Aufführung der "Matthäuspassion" ausgebüchst und eine Weile unauffindbar gewesen war. Der jüdische Jugendliche hatte ein Hauptwerk der deutsch-christlichen Kunst geschwänzt und damit seine Familie in Angst und Schrecken versetzt. Das ist vorbei, solche Symbole haben ausgedient, wir haben ein neues Jahrtausend. Er lebt in einem toleranten europäischen Land. Es ist vorbei. Ist es vorbei?
Die bekannte holländische Autorin Judith Herzberg ist Jahrgang 1934. Sie gehört noch zu den Töchtern der Holocaust-Opfer und Holocaust-Täter und Holocaust-Zuschauer. Ihr Stück geht ans Herz. Auch Menschen, die nicht mit diesem Schicksal vertraut sind, fühlen sich betroffen, das konnte ich an der gespannten Aufmerksamkeit des Düsseldorfer Schauspielhaus-Publikums erkennen. Peter Hailer, der Regisseur der Aufführung, ist ein junger Mann mit einem relativ unbelasteten, aber sensiblen Zugriff auf dieses so besondere Stück Familiengeschichte. Seine Inszenierung folgt der Dramaturgie mit ihren schnell gerissenen und schnell geknüpften Heftgarnfäden, und schafft doch einen homogenen Ablauf und ein farbiges, feines Gewebe. Alle Figuren, alle Beziehungen werden unheímlich plastisch, trotz der Nervosität der vielen Kurzauftritte.
Alle Schauspielerinnen und Schauspieler sind intensiv und genau und sehr, sehr gut! Weshalb ich sie kollektiv mit einem begeisterten Bravo bedenken möchte:
Wolfgang Reinbacher, Hanna Seiffert, Claudia Burckhardt, Dieter Prochnow, Petra Redinger, Winfried Küppers, Heidi Ecks, Anke Schubert, Peter Siegenthaler, Angelika Sautter, Martin Schneider, Patrizia Schwöbel, Julia Nehmiz, Stefan Schuster und Konstantin Bühler.
Ein wunderbares Ensemble, ein hervorragender Regisseur, ein Theaterabend, der das Publikum bereichert
"Heftgarn" von Judith Herzberg im Düsseldorfer Schauspielhaus, Kleines Haus,
Premiere am 17. Februar 2001