Um „Kunstkatastrophen“ und Künstlerexistenzen am Rande des Wahnsinns geht es auch in „Minetti“. Der Titel des Stückes verweist auf die Widmung an den unvergessenen großen Schauspieler Bernhard Minetti, der 1998 im Alter von 93 Jahren verstarb und bis an sein Lebens-ende Theater spielte. Bei der Uraufführung 1976 am Staatstheater Stuttgart (Regie: Claus Peymann) stand Bernhard Minetti auch selbst auf der Bühne. Dennoch führt Thomas Bernhard kein reales Schauspielerporträt sondern das Lebensende eines vergessenen, greisen und engagementlosen Mimen vor, der am Sylvesterabend in einer Hotelhalle im belgischen Seebad Oostende eintrifft.
Oostende ist die Heimatstadt des belgischen Malers James Ensor, von dem der alte Schauspieler eine Lear-Maske besitzt. Dreißig Jahre ist der alte Schauspieler nicht mehr auf der Bühne gestanden. Vor langer Zeit haben ihn Senatoren aus Lübeck vertrieben, weil er sich der klassischen Literatur verweigert und sich mit einem unterhaltungssüchtigen Publikum angelegt hat. Unterschlupf hat er in der Dachkammer seiner Schwester in Dinkelsbühl gefunden. Lediglich an jedem Dreizehnten des Monats spielt er Shakespeares „König Lear“ in der ungeheuerlichen Maske des Expres-sionisten Ensor vor dem Spiegel. Mit seinem letzten Geld ist er nun in Ensors Heimat gefahren, um einen Theaterdirektor aus Flensburg zu treffen. Doch der Theaterdi-rektor kommt nicht. Verbissen und stoisch wartet der alte Mann und rechnet in einem gigantischen Monolog mit der hinterhältigen Gesellschaft ab. Eine betrunkene Dame und ein junges Mädchen sind die Zuhörer seiner Lebens- und Kunstmaximen. Obwohl sogar eine Liebesgeschichte zwischen dem alten Schauspieler und dem jungen Mädchen angedeutet wird, unterstreichen die Hotelgäste am Sylvesterabend letztlich nur die völlige Isolation des alternden Künstlers. Am Schluss stirbt der Schauspieler auf einer Parkbank, gänzlich zur Maske erstarrt, im Schneegestöber.
Die Lear-Maske vor dem Gesicht verweist auf die grotesk-verfremdete Bilderwelt von James Ensor genauso wie auf die entlarvenden Motive der Maskierung, Demaskie-rung, Rollenspiel und Rollenfixierung auf dem Theater. Eine monomanische Hasslie-be zum Theater ist eine Grundhaltung im Gesamtwerk des Schriftstellers Thomas Bernhard. Bernhard Minetti blieb für ihn eine Ausnahmeerscheinung unter den Schauspielern, die ansonsten als Zerstörer und Vernichter der Phantasie den Schrift-steller an das Publikum verraten.
Thomas Bernhard, dessen Weltruhm in den sechziger Jahren als Erzähler begann, schrieb seit den siebziger Jahren fast im Jahresrhythmus zahlreiche Theaterstücke (u. a. „Ein Fest für Boris“, „Der Ignorant und der Wahnsinnige“, „Die Macht der Ge-wohnheit“, „Am Ziel“, „Vor dem Ruhestand“, „Der Theatermacher“, „Heldenplatz“). Bernhard starb am 12. Februar 1989 im Alter von nur 58 Jahren.
Bei der Münsteraner Erstaufführung spielt Michael Holm die Titelpartie, der sich nach jahrzehntelangem Engagement an den Städtischen Bühnen mit dieser Rolle in den Ruhestand verabschiedet.
Regie: Wolf Dieter Kabler
Bühnenbild: Anika Söhnholz
Kostüme: Jessica Rohm
Dramaturgie: Matthias Heilmann
Mitwirkende:
Michael Holm (Minetti, ein Schauspielkünstler), Cornelia Niemann (Eine Dame), Tina Amon Amonsen (Ein Mädchen), Christoph Tiemann (Portier)
Weitere Vorstellungen im Mai:
Freitag, 25. Mai, 19.30 Uhr
Donnerstag, 31. Mai, 19.30 Uhr