Er ist ein Abschied vom Leben im kleinen jüdischen Schtetl, und er schildert die Erfahrung einer neuen Lebenswelt. Joseph Roth verschränkt die biblische Geschichte von Hiob, dem Gott ohne Grund alles nimmt, mit dem Schicksal des Menschen in der modernen Welt, der seine Kinder, seine Frau und seine Heimat verliert.
Mendel Singer ist fromm und führt als Bibellehrer ein Leben im Dienst des Glaubens. Für den Vater von vier Kindern beginnt mit der Epilepsie des Sohnes Menuchim der Zusammenbruch seiner Welt: Er begreift sie als eine Strafe Gottes, die die Familie ins Unglück reißt. Die anderen Geschwister verachten Menuchim. Mendels Liebe zu seiner Frau Deborah welkt, wie geschlechtslose Zwillingen erleben sie den gemeinsamen körperlichen Verfall. Der älteste Sohn Jonas folgt bereitwillig der Einberufung zum Militär: „Wenn ich betrunken bin, werde ich die Mädchen schwängern.“ Der andere, Schemarjah, desertiert und wandert nach Amerika aus. Die Tochter Mirjam zieht als hungrige junge Frau die Kosaken reihenweise ins Kornfeld.
Die Familie folgt Schemarjah, der sich nun Sam nennt, nach New York und muss den behinderten Menuchim zurücklassen. In der Neuen Welt ereilt sie Schlag auf Schlag neues Unglück. Sam fällt im ersten Weltkrieg als amerikanischer Soldat, und Jonas, der auf russischer Seite gekämpft hat, gilt als vermisst. Über dem Verlust ihrer Söhne verzweifelt die Mutter. Sie reißt sich das Haar büschelweise aus und stirbt. Mirjam wird verrückt. „Mendel hat alle Gaben Gottes“, folgert er zynisch, und es bleibt ihm nur die uneingestandene Sehnsucht nach seinem jüngsten Sohn. In einem zornigen Auf-begehren gegen Gott sagt er sich vom Glauben los: „Ich verfluche Gott, aber er herrscht noch über die Welt.“ Mendel verbringt seine Tage mit Gelegenheitsarbeiten, und will in Russland sterben. Doch dann kommt Menuchim als hochbegabter Musiker nach New York und kümmert sich fortan um den Vater. Mendel beklagt nicht weiter sein Schicksal, sondern begrüßt die Welt.
Die Bearbeitung von Koen Tachelet entstand 2008 für eine Inszenierung an den Münchner Kammerspielen. Sie fokussiert präzise die konkrete Geschichte der Familie um Mendel Singer und ihr jüdisches Leben und ist gleichzeitig eine universale Erzählung über Leiden und Religion, Verlust und Hoffnung, Entwurzelung und Verortung. „Hiob“ beschreibt Reibung und Verluste im Prozess der Transformation zwischen verschiedenen Epochen und Kulturen. Dem Gefühl von Verlorensein und Entwurzelung als Lebensgefühl der galizischen Juden und der Juden überhaupt widmete der österreichische Schriftsteller und Journalist Joseph Roth sich erstmals 1927 in dem Essay „Juden auf Wanderschaft“. Das einzigartige Zeitdokument beschäftigt sich mit „den Verhältnissen, in denen sie leben und ihrem Schicksal in ihren Geburtstädten und in den Weltstädten, in die sie auswandern“, ostjüdischen Lebens- und Denkweisen. Die Stellung der Ostjuden innerhalb ihrer Umwelt und den inneren und äußeren Hindernissen, die dort ihrer Integration entgegenstehen, wird ebenso beschrieben wie die Problematik der Anpassung, Assimilation und Akkulturation der ostjüdischen Emigranten in den Auswanderungsländern. Mit dem Motiv der Wanderschaft, dem Aufbruch aus der Heimat und der Rückkehr signalisierte Joseph Roth allerdings nicht Wurzellosigkeit bzw. Entwurzelung, sondern besetzte Migration positiv.
Joseph Roth (1894–1939), geboren in der galizischen Kleinstadt Brody im Gebiet der heutigen Ukraine, studierte in Wien Germanistik und schrieb Gedichte und Erzählungen, bevor er sich 1916 zum Militär meldete. Nach dem ersten Weltkrieg war er zunächst für den Pressedienst und Wochenzeitungen tätig, in den 1920er Jahren als gefragter Journalist für die renommiertesten deutschsprachigen Zeitungen. Seit etwa 1925 bis an sein Lebensende lebte er ausschließlich in Hotels, er reiste quer durch Europa und wechselte häufig die Verlage. Roth lieferte zahllose pointierte, treffsichere Momentaufnahmen vom politischen, sozialen und kulturellen Alltag in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Das Naziregime zwang auch Joseph Roth ins Exil, nach Paris, wo trotz massiver materieller und seelischer Not seine schönsten Erzählungen entstanden. Wie in „Hiob“ führte Joseph Roth in vielen seiner späten Erzählungen den Leser zurück in die Welt des ostgalizischen Schtetls nach dem Vorbild seines Geburtsorts Brody, und ließ die Wirklichkeit des Schtetl wieder lebendig werden. Doch die antisemitische Presse in der Weimarer Republik verwendete den Begriff Ostgalizien zur Diffamierung der jüdischen Bevölkerung des Berliner Scheunenviertels. Die Ostjuden wurden mittels stereotyper Vorurteile von antisemitischen Politikern für die Ernährungsengpässe und den Wohnungsmangel verantwortlich gemacht, 1923 kam es zu brutalen Plünderungen. Darum vermied Roth in „Hiob“ eine Auseinandersetzung mit Ostgalizien und der unmittelbaren Gegenwart in Berlin. Er entrückte den ersten Teil ins russischen Wolhynien und den zweiten Teil nach New York.
Regie: Hannes Hametner
Bühne/ Kostüme: Giovanni de Paulis
Musik: Jürgen Grözinger
Dramaturgie: Justus Wenke
Mitwirkende:
Julia Möller (Menuchim, Mendels Sohn), Judith Patzelt (Mirjam, Mendels Tochter), Carola von Seckendorff (Deborah, Mendels Frau); Frank Peter Dettmann (Jonas, Mendels Sohn/ Kosake/ Mac/ Menkes, Bibelschreiber), Johannes-Paul Kindler (Doktor/ Rabbi/ Kapturak/ Kosake / Bauer/ Mr. Glück & Psychiater/ Skowronnek), Tim Mackenbrock (Schemarjah, Mendels Sohn/ Groschel, Schuhmacher), Johann Schibli (Mendel Singer)
Matinee:
Sonntag, 19. September, 11.30 Uhr, Theatertreff