
Die Auseinandersetzung mit dem Ermittlungsrichter, der sich an seine Fersen heftet, weitet sich zu einem weltanschaulichen Gefecht aus, und auch die Begegnung mit Sonja, die gezwungen ist, ihre Familie durch Prostitution zu ernähren, bewirkt eine innere Umkehr. Am Ende erwartet Raskolnikow eine langjährige Haft in einem sibirischen Straflager.
Raskolnikows radikales Weltbild teilt die Menschen in „gewöhnliche“ und „außergewöhnliche“ Menschen ein. Ist unter der Voraussetzung einer allumfassenden Freiheit des Menschen ein Verbrechen zu rechtfertigen, wenn dies im Namen des Fortschritts begangen wird und einem übergeordneten Ziel dienlich ist? Raskolnikow ist ein Gespaltener, dessen Verstand sein Gewissen auszuschalten versucht, am Ende überwiegen jedoch die moralischen Zweifel.
Fjodor Dostojewskis 1866 erschienener Ideenroman stellt die Frage nach der Legitimität von Gewalt und gewinnt im Angesicht der Verbrechen, mit denen wir uns in diesen Tagen konfrontiert sehen, beunruhigende Aktualität.
Regisseur Oliver Frljić legt in seiner Inszenierung das Hauptaugenmerk auf die Frage, inwiefern höhere Ideen moralisch Opfer rechtfertigen: „Raskolnikows Kalkulation, einen Menschen zu töten und dadurch 200 000 andere zu retten, ist natürlich höchst problematisch, weil sich menschliches Leben nicht auf politische oder ökonomische Kategorien reduzieren lässt. Aber obwohl wir alle wissen, dass ein Menschenleben nominell den höchsten Wert in der Gesellschaft besitzt, wird es in politischen Kämpfen als Währung benutzt. Dieser Widerspruch interessiert mich. … Die Spaltung der Menschheit vollzieht sich nach wie vor als mehr oder weniger sichtbare, strukturelle Diskriminierung eines großen Teils von ihr. Ich denke an diejenigen, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben, die darum kämpfen, nach Europa zu kommen, und die wir im Mittelmeer ertrinken oder an unseren Grenzen erfrieren lassen. Ich stamme aus dem Land, das im Zurückdrängen nichtweißer und nichteuropäischer Flüchtlinge EU-Meister ist. Mir geht es aber noch um einen anderen Aspekt: nämlich darum, wie stark Raskolnikows Ideen im Widerspruch zu einer bestimmten sozialen Realität stehen. Seine Axt trifft nicht die, die für seine Armut verantwortlich sind, sondern die, die auf der sozialen Leiter nur ein kleines Stück über ihm stehen.“
Oliver Frljić wurde 1976 in Bosnien geboren und flüchtete während der Jugoslawienkriege als Sechzehnjähriger nach Kroatien, wo er später Philosophie, Religionswissenschaften und Regie studierte. In seinen oft kontrovers diskutierten Theaterarbeiten weist Oliver Frljić auf blinde Flecken und unverarbeitete Wunden hin und rückt die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Kriegstraumata ins Zentrum. Seine politisch brisanten Inszenierungen wurden vielfach ausgezeichnet und auf renommierten Theaterfestivals gezeigt, u. a. den Wiener Festwochen, Neue Stücke aus Europa (Wiesbaden), Kunstenfestivaldesarts (Brüssel), Dialog (Wrocław), Bitef (Belgrad), Festival TransAmériques (Montreal) und La MaMa (New York). Von seiner Intendanz am Kroatischen Nationaltheater Rijeka trat er 2016 aus Protest gegen die kroatische Kulturpolitik zurück. In Deutschland inszenierte Oliver Frljić u. a. am Düsseldorfer Schauspielhaus, Staatsschauspiel Dresden, Maxim Gorki Theater Berlin und am Residenztheater München. Dem Schauspiel Stuttgart und Burkhard C. Kosminski ist er seit Jahren verbunden, u.a. durch die Künstlerische Leitung des Europa Ensembles (2019-2021) und seine Inszenierungen Romeo und Julia (2018) und Imaginary Europe (UA) (2019).
nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewski in der Übersetzung Verbrechen und Strafe von Swetlana Geier
Inszenierung
Oliver Frljić
Bühne
Igor Pauška
Kostüme
Maja Mirković
Musik
Daniel Regenberg
Licht
Jörg Schuchardt
Dramaturgie
Carolin Losch
MIT: David Müller, Gabriele Hintermaier, Celina Rongen, Valentin Richter, Felix Strobel, Sven Prietz, Peer Oscar Musinowski, Reinhard Mahlberg, Therese Dörr, Paula Skorupa
Weitere Vorstellungen:
23. / 24. / 29. Jun 22, 19:30
12. Jul 22, 19:30
sowie ab Winter 2022/23