Da sieht man nicht nur das Gemälde der Tosca-Rivalin Attavanti, sondern auch eine überdimensional große Marienfigur. Und die große Kirchen-Prozession am Ende des ersten Aktes lässt in ihrer Monumentalität schon die spätere Tragödie erahnen. Auch das dämonische Begehren des Polizeichefs Scarpia in Bezug auf de Sängerin Tosca kommt drastisch zum Vorschein. Der Trugschluss von Tosca und Cavaradossi besteht darin, mit der schwierigen Realität einen Handel eingehen zu wollen. Sie glauben, sich auf eine Insel zurückziehen zu können, was ihnen jedoch nicht gelingt.
Sie werden sehr bald mit einer brutalen Realität konfrontiert, was diese subtile Inszenierung vor allem im zweiten Akt bei der großen Auseinandersetzung von Tosca, Cavaradossi und Scarpia verdeutlicht. Die Verhaftung Cavaradossis und der Selbstmord Angelottis verschärfen die Situation ganz erheblich. Es kommt bei der gelungenen Inszenierung zu immer heftigeren dramatischen Zuspitzungen in immer kürzeren Abständen, was schließlich mit der Ermordung Scarpias durch Tosca endet.
Tosca zieht sich bei Willy Decker in eine innere Scheinwelt zurück, weil sie die grausame Realität nicht mehr ertragen kann. Und im dritten Akt grenzt die Verkennung der Wirklichkeit an Wahnsinn. Cavaradossi wird wirklich standrechtlich erschossen - und Tosca springt auf der Flucht vor Scarpias Häschern in den Tod. Die Scheinwelt des Theaters stürzt in der Inszenierung Willy Deckers am Schluss in bestürzender Weise zusammen. Die Plattform der Engelsburg besteht nur noch aus einem lichtdurchfluteten Schacht. Die Trennung zwischen Opfern und Tätern ist am Ende aufgehoben.
Aber es gelingt dem Regisseur, die elektrisierende Spannungskraft zwischen den handelnden Personen bis zum Schluss durchzuhalten. Und der Polizeichef Scarpia, der immer alles kontrolliert, wird in fataler Weise ein Opfer seiner sexuellen Obsession. Im zweiten Akt sehen wir ihn an einem gedeckten Tisch sitzen - aber alles steht schief, fällt aus Wirklichkeit und Zeit heraus. Es herrscht eine gespenstische Atmosphäre. Das Vergehen der Zeit wird im Sinne von Albert Camus minuziös festgehalten: "Bei ihr forderte das Glück alles, sogar den Todesstoß."
Durch alle drei Akte treibt sie die Figuren vor sich her. Manche Szene erscheint wie ein suggestives Spiegelbild der Wirklichkeit. Die Tragödie lässt sich nicht aufhalten. Zur szenischen Glaubwürdigkeit kommt an diesem Abend die musikalische Eindringlichkeit. Es gibt drei fulminante Rollendebüts. Olga Busuioc als Tosca und Atalla Ayan als Cavaradossi lassen das berückende Melos der Liebesgesänge regelrecht aufblühen. Der ganz kurzfristig für den erkrankten Roland Wood eingesprungene Thomas J. Mayer als Baron Scarpia verbreitet mit großer darstellerischer Intensität von Anfang an eine unheimliche Aura, die sich vor allem im zweiten Akt immer mehr steigert. Das aus drei Akkorden bestehende Tonsymbol prägt sich in diesem Zusammenhang tief ein.
Als pathetische Hymne auf die Kunst erscheint Cavaradossis Arie "Und es blitzten die Sterne" im dritten Akt, wo der Tenor Atalla Ayan eine gesangliche Glanzleistung bietet. In weiteren Rollen überzeugen Jasper Leever als Cesare Angelotti, Andrew Bogard als Mesner, Heinz Göhrig als Polizeiagent Spoletta, Sebastian Bollacher als Gendarm Sciarrone, Ulrich Frisch als Schließer und Tabea Klaschka als Hirt. Das Staatsorchester Stuttgart musiziert unter der impulsiven Leitung von Valerio Galli mit zügigen Tempi und feurigen Rhythmen. Das hamonische Geschehen bleibt stets im Fluss.
Die szenische Gewalt des Schauspiels "La Tosca" von Victorien Sardou in der Bearbeitung von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica überträgt sich bei dieser glutvollen Inszenierung stark auf die Musik. Man kann Puccinis dramaturgischen Spürsinn einmal mehr bewundern. Die kantable Melodie triumphiert auch in den großangelegten Chorszenen, wo der Staatsopernchor Stuttgart eine hervorragende Leistung bietet (Einstudierung: Manuel Pujol). Auch der Kinderchor der Staatsoper Stuttgart beweist Einfühlungsvermögen (Einstudierung: Bernhard Moncado). Valerio Galli kostet mit dem Staatsorchester Stuttgart nicht nur die lyrischen Momente aus, sondern legt insbesondere auf die Herausarbeitung der Leitmotivtechnik großen Wert. Skalen, Passagen und Streichertremoli werden suggestiv in den harmonischen Ablauf eingebettet.
Das ungeheure Netz von Beziehungen wird in dieser Oper akribisch durchleuchtet. Das kommt auch den Sängern zugute. Vier kurze, prägnante und unterschiedliche Motive kennzeichnen vor allem Angelotti gleich zu Beginn mit scharfer Akzentuierung. Und so besitzt auch der erste Akt von Anfang an eine ungeheure dramatische Wucht. Geballte Akkorde und drängende Synkopen charakterisieren musikalisch eindringlich die Verzweiflung des Flüchtlings. Das Zitat des "Schreckensmotivs" blitzt hier grell auf. Farbe und Dynamik kennzeichnen auch das Erinnerungsmotiv in bemerkenswerter Weise. Der starre und unerbittliche Charakter des Polizeichefs Scarpia wird von Thomas J. Mayer beim "Largo religioso" im Tritonusabstand nochmals in grandioser Weise herausgestellt. Und das "Scarpia"-Motiv kennzeichnet ungestüm den Allgewaltigen, "vor dem ganz Rom zitterte" (szenische Leitung der Wiederaufnahme: Verena Silcher).
Riesenjubel für das gesamte Ensemble.